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Der Bart, das Gras

Annerose Kirchner

 

Frei nach Ovid, für Hundertwasser

I

Mein Freund, gelieb­ter, entdeckte
noch nie­mand dei­nen herr­li­chen Bart?
Es gibt zu viele davon, sagst du,
und man­che Frauen mögen Bärte nicht.
Dir wucherte aus dem Sproß zar­ter Stichel
luf­ti­ges Wäld­chen. Heute von präch­ti­gem Bestand,
mißt poe­ti­scher Hain die Zeit nach eig­nem Gesetz
und lädt zum Schäferstündchen.
Von Haar zu Haar bezwing ich Wur­zeln, Gestrüpp
und Moos­flech­ten. Schaukle in Bäumen
und nähr meine Träume mit dem Nek­tar der Natur.
Wozu das Kama­su­tra der Frö­sche studieren,
wenn ich ohne Übung Wunder
über Wun­der emp­fan­gen darf, während
das Gras auf dei­nen Lip­pen grünt.

II

Ver­lo­ren wir das Para­dies im Tanz
ums Goldne Kalb, der lange Schatten
des Gra­ses gibt es zurück,
für kurze Zeit. Kein Bedarf
an Medei­schem Kraut und magi­schen Sprüchen.
Duf­tend von Honig und Wacholder,
streckt sich üppi­ges Kinn,
wäh­rend dein Schä­del, nackt
wie das Geschlecht, unsere Leidenschaft
im Gedächt­nis birgt.

(1993)


aus: Kel­ti­scher Wald. Gedichte, quar­tus-Ver­lag, Bucha b. Jena 2001.
Abdruck mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Autorin. Alle Rechte bei der Autorin.

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