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Das Sonnenglöckchen von Syrila

Rainer Hohberg

 

Sobald im Lande Syrila die Stun­den der Nacht vor­über waren, musste der Nacht­wäch­ter mit einem gol­de­nen Glöck­chen die Sonne aus dem Schlaf wecken. Wie man sich den­ken kann, war das ein beson­de­res Glöck­chen von unschätz­ba­rem Wert. Jeden Mor­gen mahnte er des­halb Frau und Kin­der: „Ich lege mich jetzt schla­fen. Gebt Acht, dass sich nie­mand an der Son­nen­glocke ver­greift!“ Eines Tages piekte Will, den jüng­sten Sohn, die Aben­teu­er­lust. Er zog die Son­nen­glocke aus der Tasche und ent­wischte auf die Straße. Kling-li-ping, kling-li-ping . Viel­leicht konnte man mit dem Glöck­chen die Stra­ßen­bah­nen wie Flug­zeuge durch die Luft schwe­ben las­sen? Kling-pi-ling, kling-pi-ling . Oder aus den Wol­ken einen kun­ter­bun­ten Bon­bon­re­gen zau­bern. Kling-pi-ling, kling-pi-ling . Oder aus dem Markt­brun­nen eine Was­ser-fon­täne bis in den Him­mel sprit­zen lassen?

Ja, das wollte der kleine Will als Erstes pro­bie­ren. Am Markt­platz klet­terte er auf den Brun-nen­rand und ließ die Glocke klin­gen. Kling-li-ping, kling-li… Plötz­lich rutschte ihm das Glöck-chen aus der Hand und platschte in den fin­ste­ren Brun­nen­schacht. Vor Schreck blieb Will fast das Herz ste­hen. Was nun, wenn der Vater die Sonne nicht mehr wecken konnte. Mit Grauen stellte er sich vor, wie sich die Gespen­ster der Fin­ster­nis im gan­zen Land breit­ma­chen wür-den. Will schluchzte, dicke Trä­nen tropf­ten in das schwarze Brunnenwasser.

Da ver­nahm er plötz­lich eine tiefe, gur­gelnde Stimme: „He, du Klein­ge­müse! Was heulst du mir den Brun­nen voll?“ Aus dem dunk­len Brun­nen­loch starrte ihn mit roten Augen ein grün-bär­ti­ger Was­ser­mann an. Im ersten Augen­blick wollte Will davon­lau­fen. Doch er besann sich rasch und rief: „Was­ser­mann, Star­ker, du musst mir hel­fen! Die gol­dene Son­nen­glocke ist in dei­nen Brun­nen gefal­len. Bitte hole sie herauf!“
„Pap­per­la­papp, was habe ich davon?“
„Bitte!“, flü­sterte der kleine Will.
„Hm, es ist Früh­stücks­zeit, und falls du mir mei­nen Lieb­lings­schmaus besorgst, will ich mir´s überlegen.“
„Was für einen Schmaus?“
„Eine knackige Rie­sen­pizza mit Schnecken­fleisch und süß­sauren Gürk­chen könnte ich jetzt ver­tra­gen. Los, beeile dich!“

Der kleine Will rannte los, so schnell ihn die Füße tru­gen. Am Bahn­hof fand er die Bude der mop­pel­dicken Piz­za­bäcke­rin. Sie kne­tete gerade Piz­za­teig und sah neben­bei im Fern­se­hen einen Zirkusfilm.
„Piz­za­bäcke­rin, habe nur du kannst mir hel­fen! Backe mir eine knackige Rie­sen­pizza mit Schnecken­fleisch und süß­sauren Gürk­chen. Wenn ich die
knackige Rie­sen­pizza dem grün­bär­ti­gen Was­ser­mann bringe, holt er mir die gol­dene Glocke aus dem Brun­nen. Und wenn ich die Glocke habe…“
„Was habe ich davon?“ unter­brach ihn die Frau mürrisch.
„Bitte“, bet­telte der kleine Will. „Mein Vater muss sonst morgen…“
„Was geht’s mich an?“, ant­wor­tete die mop­pel­dicke Pizzabäckerin.“Schau dir im Fern­se­hen diese weiße Stute mit gol­de­nem Zaum­zeug an. Ach, wie gerne möchte ich mal auf einem wei­ßen Pferd nach Hause rei­ten. Dann würde meine blöde Nach­ba­rin end­lich plat­zen vor Neid.“

Die Mit­tags­zeit war schon vor­bei, als Will den Fest­platz erreichte. Dort stand ein Karus­sell mit präch­tig auf­ge­putz­ten Pfer­den. Das schön­ste von allen war eine Schim­mel­stute mit gol-denem Zaum­zeug. „Stute, Schöne, ich brau­che deine Hilfe. Komm schnell mit! Wenn die mop­pel­dicke Piz­za­bäcke­rin heute auf dei­nem Rücken nach Hause rei­ten darf, backt sie eine knackige Rie­sen­pizza mit Schnecken­fleisch und süß­sauren Gürk­chen. Wenn ich die knackige Rie­sen­pizza dem grün­bär­ti­gen Was­ser­mann bringe, holt er mir die gol­dene Glocke aus dem Brun­nen. Und wenn ich die Glocke habe, dann…“
„Die piz­zadicke Mop­pel­bäcke­rin schlep­pen, ich?“ wie­herte die Stute belei­digt. „Was habe ich davon?“
„Bitte“, flehte der kleine Will. „Mein Vater muss sonst morgen…“
„Was geht mich dein Vater an! Was ich brau­che, ist ein lila Lip­pen­stift, oder auch drei. Lila Lip­pen sind jetzt näm­lich große Mode. Doch lei­der passe ich im
Fri­sör­sa­lon Fröh­lich nicht durch die Ladentür!“

Will rannte wei­ter, rannte durch sieb­zehn Gas­sen und über­querte sie­ben Plätze. Als er den Fri­sör­sa­lon betrat, war er völ­lig außer Atem.
„Herr Fröh­lich, darf ich sie um einen klei­nen Gefal­len bit­ten? Könn­ten Sie mir
viel­leicht einen lila Lip­pen­stift geben, viel­leicht auch drei. Wenn ich den lila Lip­pen­stift be-komme, lässt die weiße Stute die mop­pel­dicke Piz­za­bäcke­rin nach Hause rei­ten. Wenn die mop­pel­dicke Piz­za­bäcke­rin rei­ten darf, backt sie eine Rie­sen­pizza mit Schnecken­fleisch und süß­sauren Gürk­chen! Wenn ich die knackige Rie­sen­pizza dem grün­bär­ti­gen Was­ser­mann bringe, holt er mir die gol­dene Glocke aus dem Brun­nen. Und wenn ich…“
„Halt, halt“, fiel ihm Herr Fröh­lich ins Wort. „Was habe ich davon?“
„Bitte, lie­ber Herr Fröh­lich. Mein Vater muss sonst morgen…“
„Was geht mich dein Vater an“, brummte der Fri­sör. „Wo ich doch mit mei­ner Toch­ter Me-ralda schon genug Sor­gen habe. Seit Wochen warte ich dar­auf, dass sie mal wie eine rich­tige Fröh­lich rich­tig fröh­lich lächelt. Aber ob ich ihr nun den Hin­tern ver­sohle oder sie in den Kel-ler sperre – zweck­los: Fröh­lich lachen will sie ein­fach nicht.“

Will stöhnte. Nun musste er auch noch die muff­lige Meralda suchen! Nach einer Weile lief ihm das Mäd­chen über den Weg. Sie war schwarz geklei­det, schwarz geschminkt, wie die Gespen­ster der Nacht. Sie ließ sich von Will nicht auf­hal­ten. Also trabte er ihr atem­los hin-terher.
„He, Meralda, lass uns schnell zu dei­nem Vater laufen!“
„Wie´n?“
„Weil du ihn mal ganz fröh­lich anlä­cheln sollst.“
„Was´n?“
„Wenn du es tust, gibt er mir einen lila Lippenstift.“
„Was hab ich´n davon?“

Ver­zwei­felt raufte sich der kleine Will die Haare. Es war schon Nachmittag
gewor­den, Bald würde sein Vater aus dem Schlaf erwa­chen. Und wenn dann die gol­dene Glocke fehlte. Obwohl Meralda gleich­gül­tig wie ein Stein drein­schaute, musste Will auch ihr alles erklä­ren. Aber vor Auf­re­gung gehorchte ihm die Zunge nicht mehr, und alle Worte kul-ler­ten durch­ein­an­der: „Wenn ich den lila Lip­pen­stift der wei­ßen Stute bringe, darf sie auf der mop­pel­dicken Bäcke­rin nach Hause rei­ten. Wenn die lila Bäcker­pizza rei­ten darf, kackt die Stute auf dem dicken Bäcker eine zackige Schnecken­pizza mit mop­pel­dickem Rie­sen-fleisch und grün­bär­ti­gen Gürk­chen. Wenn die grün­bär­ti­gen Gürk­chen – äh, ich meine den knacki­gen Was­ser­mann – nein, den
piz­zadicken Lippenstift…“

Wei­ter kam Will nicht. Ver­zwei­felt biß er sich auf die Lip­pen. Aus und vor­bei! Nun hatte er end­gül­tig alles ver­dor­ben. Die Trä­nen schos­sen ihm aus den Augen. Meralda aber schüt­telte sich, schüt­telte sich vor Lachen. So schrill und laut wie­herte sie, dass Herr Fröh­lich aus dem Laden stürzte, gefolgt von allen sei­nen Kunden.
„Sehen Sie nur, wie bezau­bernd meine Meralda lachen kann! Eben doch ein
ech­tes Fröhlich-Kind!“
Über­glück­lich zog er Will in sei­nen Laden, langte in die lila Kiste und drückte dem ver­blüff-ten Jun­gen ein Dut­zend Lip­pen­stifte in die Hand.

Wie der Wind fegte Will mit den Lip­pen­stif­ten zum Karus­sell. Die weiße Stute schminkte ihr Maul und trabte anschlie­ßend zur mop­pel­dicken Piz­za­bäcke­rin. Die Bäcke­rin buk eine be-son­ders knackige Rie­sen­pizza mit Schnecken­fleisch und süß­sauren Gürk­chen. Die Rie­sen­pizza wurde vom Was­ser­mann laut schmat­zend ver­speist. Dann tauchte er in den Brun­nen und holte das gol­dene Glöck­chen her­auf. Mit die­sem rannte Will nach Hause und ließ es in letz-ter Sekunde unbe­merkt in der beson­de­ren Tasche der Uni­form sei­nes Vaters verschwinden.

So konnte die Sonne am näch­sten Mor­gen leuch­tend wie immer über Syrila
auf­ge­hen. Frei­lich nahm kaum jemand Notiz davon, da alle gerade zur Arbeit eil­ten. Nur der kleine Will stand am Fen­ster und war glück­lich über jeden Sonnenstrahl.


in: Hed­wig von Bülow (Hg.): Es war ein­mal ein Zwei­horn: Geschich­ten und Gedichte rund um das erste Schul­jahr, Ver­lag Sau­er­län­der, Düs­sel­dorf 2004.

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