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Autokino

Kai Mertig

 

Die Geschichte, um die es geht, fängt mit einem Jun­gen an, der das Rei­sen lernt.

Eins/ Ein­stieg
Etwas ist lie­gen geblie­ben. Der erste Schnee bedeckt Wie­sen und Stra­ßen. Der Junge hat sei­nen Schlit­ten nach drau­ßen geholt. Er sieht an sich herab und ent­deckt mit Erstau­nen, wie dick er sich in der gefüt­ter­ten Jacke vor­kommt. Auf den Ärmeln lan­den weiße Kügel­chen. Wenn es still ist, kni­stern sie auf dem Stoff.
Wenig spä­ter steht der Schlit­ten allein vor der Tür. Der Junge steigt, schnel­ler als ihm lieb ist, in einen blauen, auf­brum­men­den Wagen. Der Wagen über­quert meh­rere Land­stra­ßen. Vorn spricht eine weib­li­che Stimme.
Der Junge kann die Stra­ßen nicht sehen, auch die Bäume und Fel­der sieht er nicht. Er kann den Kopf nicht weit genug nach oben recken. Der Junge kann durch eine Scheibe den Him­mel sehen, der unbe­weg­lich zu sein scheint. Der Him­mel wirkt leer, obwohl er die­selbe Farbe hat wie der Wagen. Ste­chend blau. An die Scheibe fal­len Kügel­chen, die wäh­rend der Fahrt nicht zu hören sind.

Zwei
Ein Wohn­zim­mer im Win­ter. Kaum mehr als mit dem not­wen­dig­sten ein­ge­rich­tet. Etwas abge­dun­kelt. Die Frau, die den Jun­gen hier­her gebracht hat, trägt krau­ses schwar­zes Haar, sehr dicht und offen und etwa schulterlang.
Die Frau hat feine Kla­vier­hände, die immer kalt sind, an der einen von bei­den hält sie den Jun­gen fest. Sie hält ihn damit so fest, wie sie das sonst nur mit ihren Büchern macht, sie kennt bei­nahe jedes Buch, sie liest viel, sie ist eine kluge Frau. Wie­der und wie­der wird sie das Mär­chen von einem Mäd­chen erzäh­len, das einen Jun­gen sucht, der im Nor­den ver­schwun­den ging; vom Lesen hat sie Ant­wor­ten in der Tasche.
Wir blei­ben nur kurz, sagt die Frau mit den Kla­vier­hän­den. Sie führt Selbst­ge­sprä­che vor dem Zau­be­rer auf. Er ist der Mann am Tisch mit grauem Haupt­haar. Er sitzt im Raum, schaut fern und sagt kein Wort. Er raucht nur. Er wird es auch spä­ter tun, wenn ihm der Spie­gel zer­bricht, er wird qual­men und qual­men und seine Schlä­fen wer­den blank lie­gen. Der Mann wird auf­fäl­lig rot im Gesicht, nicht nur um Schlä­fen und Stirn. Die Punkte auf sei­ner Nase wer­den die­selbe Farbe haben und auch der Bart, hin­ter dem seine Zau­ber­tränke magisch ver­schwin­den. Rot, fast orange.
Die Augen des Jun­gen, der jetzt das Rei­sen lernt, durch­for­sten einen Bier­fla­schen­wald auf dem Wohn­zim­mer­tisch. Die Augen des Jun­gen trä­nen im Dunst. Als er über sie streicht, sind sie kühl, ein biss­chen wie Gras im Tau. In der Luft liegt eine ste­chende Mischung aus Men­thol und Tabak. Der Junge kennt die­ses Haus nicht, er hat es noch nie­mals zuvor gese­hen, erst recht nicht betre­ten. Er lehnt sich an die Hei­zung, aber sie ist kalt wie die Hände der Frau. Die Frau mit den Kla­vier­hän­den ist eine Schneefrau.
Unter der Jacke wird dem Jun­gen mit einem Mal sehr warm. Er ver­sucht sie ein wenig zu öff­nen. Die Frau hilft ihm nicht. Sie ist damit beschäf­tigt, dem Zau­be­rer Worte ent­ge­gen­zu­sa­gen, die jedoch nicht durch den Rauch drin­gen kön­nen. Auf dem Tisch, direkt vor dem Bier­fla­schen­wald, sieht der Junge ein Foto. Die Frau sieht wie ein ande­rer Mensch dar­auf aus. Sie lacht und hat die Arme nach oben geris­sen. Ihr schwar­zes Haar ist zu einem Zopf gebun­den. Die Frau auf dem Foto kommt dem Jun­gen wie eine Zau­be­rin vor, eine Kom­pli­zin an der Seite des Mannes.
Die Frau mit den Kla­vier­hän­den lacht. Sie springt von einem über­gro­ßen Rep­til aus Stahl­ge­flecht und Beton. Es ist um ein viel­fa­ches grö­ßer als sie selbst und reißt hung­rig das Maul auf. Zwi­schen den Bäu­men im Wald wirkt das Unge­heuer sehr fremd. Neben den Bei­nen des Tie­res hat sich brau­nes Laub angehäuft.
Dort, auf den letz­ten Blät­tern aus dem Som­mer, wird die Frau mit ihren Füßen auf­kom­men, denkt der Junge. Ihre Haare wer­den durch die Luft wir­beln. Der Junge sieht, wie sich das Foto als Film einige Sekun­den vor­wärts bewegt. Der Junge erin­nert sich. Er befin­det sich mit­ten in die­sem Film, auf dem Laub in der Nähe der Frau. Er ist Teil davon, unver­hofft. Die Frau lan­det vor den Kral­len des Sau­ri­ers. Im Hin­ter­grund rau­schen die Bäume. Die Äste bie­gen sich, als wol­len sie nach ihr grei­fen. Der Wind hebt die Kapuze des Jun­gen an.
Kurz nach­dem die Frau den Boden erreicht, wird der Junge gezwun­gen, den Wald zu ver­las­sen. Die Angst ist da. Er weiß nicht, warum. Er wird aus dem Wald getrie­ben und steht am glei­chen Platz wie zuvor, im Wohn­zim­mer des Zau­be­rers. Als greife ihn nun der Sau­rier in dem frem­den Haus hin­ter der kal­ten Hei­zung an.
Die Hand, die den Jun­gen noch immer hält, drückt plötz­lich sehr fest. Die Augen des Jun­gen ver­feh­len das Foto. Schlag­ar­tig reißt die Frau den Jun­gen vom Sau­rier weg. Das Bild segelt zu Boden und lan­det auf der wei­ßen Rück­seite. Auf der Holz­platte klirrt es. Der Fla­schen­wald stürzt in sich zusammen.
Kurz ist es laut. Der Junge wird müde. Seine Augen trä­nen nicht mehr. Die Frau zieht ihn etwas unsanft durch die halb geöff­nete Tür, hin­ter der es dun­kel ist. Das Bild wird ausgeblendet.

Drei
Die Split­ter des Spie­gels, sagt die Frau, haben sein Herz und auch den Blick getrof­fen. Sie erzählt das Mär­chen von dem ver­schwun­de­nen Jun­gen wei­ter, als die bei­den im Wagen sit­zen. Das Mäd­chen, sagt sie, wird ihm hel­fen, wenn die Geschichte zu Ende geht.
Der Junge ver­steht nichts, den Jun­gen inter­es­siert jetzt viel mehr das Rep­til. Er will an die­sem Ort sein. Er will das Tier zäh­men, er will es strei­cheln, er will sich anleh­nen und wis­sen, wie
sich die Zacken auf dem Rücken, die Zähne im Maul und die graue Haut anfüh­len. Er will ins Innere krie­chen. Über die rosa­far­bene, harte Zunge strei­chen und dahin­ter ins Innere schauen. Wis­sen, wie warm es im Bauch des Sau­ri­ers ist und nie wie­der dar­aus her­vor­kom­men, falls es warm genug darin ist.
Das Lachen der Frau im Sprung will er hören und das Kni­stern ihrer schwar­zen, halb­ho­hen Schuhe im Herbst, bevor er wie­der ganz ange­kom­men ist in die­sem Win­ter. Bevor der Junge wach wird und begreift, er wurde durch eine Tür gezo­gen und sitzt nun wie­der in dem blauen Wagen, der wo auch immer hin fährt.
Dann sieht er erneut den Kügel­chen nach, die an die Scheibe flie­gen. Er fragt sich, warum der Him­mel immer der­selbe ist und auch, warum er vom Wagen aus nie die Bäume, die Wäl­der und die Land­stra­ßen sieht.

Vier
Wir befin­den uns vor einem wei­te­ren Haus, das bis­her keine Rolle gespielt hat und es ist immer noch Win­ter. Mitt­ler­weile kom­men kräf­tige Flocken her­un­ter. Der Schnee ist inzwi­schen so viel, dass es über­all hell um den Jun­gen gewor­den ist. Er sieht sich um und kann nichts als Weiß erken­nen. Es sticht ihm in den Augen. Das schwarze Haar der Frau fällt auf in der Jahreszeit.
Die bei­den sind auch dies­mal nicht allein. Der Junge sieht nach oben und erkennt die Trä­nen eines Man­nes, den er vor eini­gen Tagen hin­ter grü­nem Rund­glas wie einen Magier im Dickicht von Eli­xie­ren gese­hen hat.
Die Frau ist da und mit ihr der Zau­be­rer. Es ist grell um die bei­den. Sie erzäh­len ein­an­der ark­ti­sche Fabeln. Jeder für sich. Kei­ner hört dem ande­ren zu. Die Fabeln und Sprü­che wer­den hin und wie­der schnel­ler, sie wer­den wil­der, zwi­schen den Gesich­tern der Frau und des Zau­be­rers bil­det sich über Minu­ten ein eis­kal­ter Qualm, einer, der dem Jun­gen nicht in den Augen sticht, ein ande­rer als in der Woh­nung des Mannes.
Es fal­len wie­der Kügel­chen. Zu allen Sei­ten tür­men sich Wände aus einer gepress­ten, hel­len Masse, an die er sich nie­mals anleh­nen will. Sie ist so hart zusam­men­ge­drückt, dass es ihm nicht gelingt, ein wenig her­aus zu krat­zen und eine Kugel zu for­men. Sogar der Unter­grund, auf dem er ver­harrt, besteht aus der Masse. Der Boden hat sich schwei­gend erhöht. Wenn der Junge das Gewicht sei­nes Kör­pers auf der sel­ben Stelle von einem Bein auf das andere legt, knarrt die Masse jedoch bedrohlich.
Die Fabeln wer­den lau­ter und lau­ter. Der Junge schaut nicht mehr auf, er kann den Kopf nicht so lange heben. Der Qualm ver­wan­delt sich in eis­kalte Wol­ken. Der Ton setzt aus. Die Kamera schwenkt gedul­dig über eine ver­träumte Land­schaft. Der Film bricht ab.
Näch­ste Ein­blen­dung. Der Junge hört plötz­lich wil­des Geschrei ober­halb sei­nes Kop­fes. Dann ver­wackelt das Bild. Die Hand zieht ihn weg.

Fünf
Jetzt sitzt er im Wagen. Ein Schlüs­sel klirrt und hek­ti­sches Hecheln dringt von vorn, der Junge kann es sehen, es ist ein wei­ßes neb­li­ges Hecheln, das aus der Frau mit den Kla­vier­hän­den kommt, der Schnee­frau. Dann brummt der Wagen auf und das Bild
ver­wackelt erneut. Der Junge nimmt seine Kräfte zusam­men, denn das muss er sehen. Der Gurt hat ihn kurz noch im Griff. Er drückt mit aller Kraft auf die Schnalle, er zerrt und drückt, das Band ratscht zurück. Der Junge stellt sich auf das Pol­ster der Hin­ter­bank und dreht sich um, er blickt durch die Heck­scheibe. Seine Augen sind klein und tref­fen den Blick des Zau­be­rers. Die Augen des Zau­be­rers leuch­ten wie Schnee. Der Zau­be­rer steht drau­ßen und bleibt allein.

Sechs/ Aus­stieg
Der Wagen wird klei­ner. Er geht in der Land­schaft unter. Auch die Augen des Jun­gen wer­den klei­ner. Seine Hände hal­ten sich an der Heck­scheibe fest. Die Heck­scheibe ist kalt. Der Mann winkt und weint und er raucht. Die Frau fährt. Sie fährt und es däm­mert. Sie dreht sich nicht um. Sie nimmt den Jun­gen nach Nor­den mit.


Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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