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299 Tage

Verena Zelt­ner

 

Man­che Tage sind ein­fach zum Weg­schmei­ßen. Heute, glaube ich, war so einer; ein total bekack­ter Tag.
Vor­mit­tags in der Schule hatte ich ein paar Durch­hän­ger. Ich konnte mich kaum auf etwas kon­zen­trie­ren. Schätze mal, dass ich die Phy­sik­ar­beit ver­hauen habe. Aber was solls, dar­über rege ich mich nicht auf, denn wer braucht das schon. Für mein Leben ist eine gute Note in Phy­sik jeden­falls nicht von gro­ßer Bedeutung.
Von Bedeu­tung ist eher, dass ich nach dem gest­ri­gen Vor­fall von den ande­ren nicht mehr gemobbt werde. Nicht im Netz und nicht in der Klasse. Habe ich Elli zu ver­dan­ken – wie hätte ich mich denn zur Wehr set­zen sollen?
Nach dem Unter­richt in die Kli­nik. Die Lind­ner, hatte ich das Gefühl, war nicht beson­ders gut drauf. Dabei hab ich mich so abge­müht, und ich hab gedacht, es wär ganz gut gelau­fen. Ich hab wirk­lich fast alle Worte raus­ge­brach. Sie hätte mich ruhig mal loben kön­nen, aber nee.
Anschlie­ßend musste ich zu Frau Dok­tor Bir­k­ner und die Kehl­kopf­spie­ge­lung über mich erge­hen las­sen. Na ja, ich hab es so leid­lich hin­ter mich gebracht und gemerkt, dass sie nicht gerade begei­stert schien, als sie sich das Ergeb­nis am Com­pu­ter ange­schaut hat. Dann habe ich ihr mei­nen Zet­tel hin­ge­legt. Da stand drauf, dass ich end­lich wis­sen will, wann ich wie­der reden kann, dass ich meine Stimme brau­che – jetzt, sofort, und nicht irgend­wann. Dass mir 225 Tage ohne Spra­che rei­chen, dass das so über­haupt kein Leben ist.
Sie hat mich besorgt ange­blickt und auch ein wenig erstaunt, jeden­falls kam es mir so vor. Wahr­schein­lich wegen der 225 Tage, weil ich das so genau weiß. Und dann hat sie gesagt, dass der Befund lei­der unver­än­dert ist, dass sich mein lin­kes Stimm­band nach wie vor nicht bewegt- Ob es auf Dauer gelähmt bleibe, könne sie jetzt noch nicht sagen. Bis zu einem Jahr nach der Ope­ra­tion bestehe die Hoff­nung, dass sich das Stimm­band rege­ne­rie­ren würde, dass ich dann wie­der genau so spre­chen und sin­gen kann wie frü­her; wie vor der OP.
Und wenn nicht, habe ich sie gefragt. Doch da ist sie mir aus­ge­wi­chen, das habe ich genau gespürt. Einem Jahr Zeit müsse man dem Stimm­band schon geben, und dann hat sie etwas von einer Ope­ra­tion gesagt als letzte Mög­lich­keit, aber dass das jetzt noch nicht in Frage käme.
Warum nicht, wollte ich von ihr wis­sen. Sind 225 Tage etwa nicht genug? Und wie ist es mit dem Sin­gen? Aber aus­ge­rech­net in dem Moment hatte meine Stimme einen Total­aus­fall. Sie hat dann gemeint, ich müsse ein­fach noch etwas Geduld haben, und die The­ra­pie würde erst ein­mal so wei­ter­lau­fen wie bisher.
Ich hab mei­nen Mund auf­ge­macht und wollte schreien. Weil das ja nicht ging, hätte ich mir fast irgend­was geschnappt und auf den Fuß­bo­den geschmis­sen. Damit das nicht pas­siert, bin ich dann ein­fach aus dem Zim­mer gestürmt. Ich musste durch das War­te­zim­mer, und die Pati­en­ten, die da saßen und war­te­ten, haben mich komisch ange­guckt. Wobei, viel­leicht habe ich mir das auch nur eingebildet.
Dann war ich end­lich drau­ßen, und ich wollte wei­ter nichts als mit jeman­den reden. Oder mich wenig­stens per Whats­App unter­hal­ten. Mit Elli oder mei­nem Vater. Doch Elli war mit den Zwil­lin­gen im Bad, und Unter­was­ser­han­dys gibt es noch nicht (viel­leicht sollte das mal jemand erfin­den). Und Papa, das hatte er mir am Mor­gen erzählt, saß um diese Zeit in einer Gerichts­ver­hand­lung, und da konnte ich ihn unmög­lich stö­ren. Oma? Na ja, sich mit ihr am Com­pu­ter zu unter­hal­ten ist nicht so das Wahre. Wie­der ein­mal hat mir Mama so, so sehr gefehlt.
Eigent­lich gibt es ja kei­nen Tag, an dem ich nicht an sie denke – aber gerade in dem Moment habe ich sie so sehr ver­misst, dass mir alles weh getan hat. Auf ein­mal hat es ange­fan­gen zu reg­nen und gleich­zei­tig schien die Sonne. Da hätte eigent­lich ein Regen­bo­gen auf­tau­chen müs­sen. Ich habe zum Him­mel hoch gestarrt und gewar­tet und gewar­tet. Mama hatte mir mal gesagt, ein Regen­bo­gen würde Glück brin­gen. Ich habe gedacht, wenn ich einen sehe, wird mein Stimm­band wie­der funk­tio­nie­ren. Doch obwohl ich mir bald die Augen aus­ge­guckt und es mir so sehr gewünscht habe, ist kein Regen­bo­gen auf­ge­taucht. Bedeu­tet das nun, dass ich nicht wie­der reden lerne? Dass ich viel­leicht für immer stumm bleibe und nie wie­der sin­gen kann? Ich glaube, dann will ich gar nicht mehr leben.
Ein Jahr hätte mein gelähm­tes Stimm­band Zeit, wie­der zu funk­tio­nie­ren, hat Frau Dok­tor Bir­k­ner gesagt. Ein Jahr hat 365 Tage. Auch ohne Taschen­rech­ner kann ich aus­rech­nen, dass bis zu einem Jahr noch 140 Tage feh­len. Das halte ich nicht aus.
Ich bin dann nach Hause gegan­gen und habe auf Papa gewar­tet. Doch gerade als ich dachte, dass er nun jeden Moment kom­men würde, hat er mir eine Nach­richt geschickt – dass er sich auf der Bau­stelle mit Katha­rina und dem Hei­zungs­bauer trifft und es des­halb spä­ter wird.
Und nun sitze ich hier und warte immer noch. Elli habe ich eine Nach­richt geschickt, doch sie hat mir nicht geant­wor­tet. Und was ich kei­nem erzäh­len kann, weil ich eben über­haupt nichts erzäh­len kann, habe ich jetzt in mein Tage­buch geschrie­ben und tat­säch­lich ein biss­chen geheult dabei. Obwohl ich das gar nicht wollte, und jetzt haben die Sei­ten ein paar Was­ser­flecke. Tränenflecke.
Ich bin irgend­wie total fer­tig und eine rich­tige Heul­suse. Hätte ich mich doch bloß nicht ope­rie­ren las­sen! Diese OP hat mir alles kaputt gemacht. Ich fühle mich wie ein klei­ner, aus dem Nest gefal­le­ner Vogel und so, als würde ich lang­sam in einem tie­fen schwar­zen Loch ver­sin­ken, aus dem ich nicht mehr rauskomme.
Das kleine Käuz­chen habe ich damals geret­tet. Wer ret­tet mich?


299 Tage, Tha­mis Ver­lag, Neun­ho­fen 2020
Der Abdruck erfolgt mit der freund­li­chen Geneh­mi­gung der Autorin.

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