Verena Zeltner
Manche Tage sind einfach zum Wegschmeißen. Heute, glaube ich, war so einer; ein total bekackter Tag.
Vormittags in der Schule hatte ich ein paar Durchhänger. Ich konnte mich kaum auf etwas konzentrieren. Schätze mal, dass ich die Physikarbeit verhauen habe. Aber was solls, darüber rege ich mich nicht auf, denn wer braucht das schon. Für mein Leben ist eine gute Note in Physik jedenfalls nicht von großer Bedeutung.
Von Bedeutung ist eher, dass ich nach dem gestrigen Vorfall von den anderen nicht mehr gemobbt werde. Nicht im Netz und nicht in der Klasse. Habe ich Elli zu verdanken – wie hätte ich mich denn zur Wehr setzen sollen?
Nach dem Unterricht in die Klinik. Die Lindner, hatte ich das Gefühl, war nicht besonders gut drauf. Dabei hab ich mich so abgemüht, und ich hab gedacht, es wär ganz gut gelaufen. Ich hab wirklich fast alle Worte rausgebrach. Sie hätte mich ruhig mal loben können, aber nee.
Anschließend musste ich zu Frau Doktor Birkner und die Kehlkopfspiegelung über mich ergehen lassen. Na ja, ich hab es so leidlich hinter mich gebracht und gemerkt, dass sie nicht gerade begeistert schien, als sie sich das Ergebnis am Computer angeschaut hat. Dann habe ich ihr meinen Zettel hingelegt. Da stand drauf, dass ich endlich wissen will, wann ich wieder reden kann, dass ich meine Stimme brauche – jetzt, sofort, und nicht irgendwann. Dass mir 225 Tage ohne Sprache reichen, dass das so überhaupt kein Leben ist.
Sie hat mich besorgt angeblickt und auch ein wenig erstaunt, jedenfalls kam es mir so vor. Wahrscheinlich wegen der 225 Tage, weil ich das so genau weiß. Und dann hat sie gesagt, dass der Befund leider unverändert ist, dass sich mein linkes Stimmband nach wie vor nicht bewegt- Ob es auf Dauer gelähmt bleibe, könne sie jetzt noch nicht sagen. Bis zu einem Jahr nach der Operation bestehe die Hoffnung, dass sich das Stimmband regenerieren würde, dass ich dann wieder genau so sprechen und singen kann wie früher; wie vor der OP.
Und wenn nicht, habe ich sie gefragt. Doch da ist sie mir ausgewichen, das habe ich genau gespürt. Einem Jahr Zeit müsse man dem Stimmband schon geben, und dann hat sie etwas von einer Operation gesagt als letzte Möglichkeit, aber dass das jetzt noch nicht in Frage käme.
Warum nicht, wollte ich von ihr wissen. Sind 225 Tage etwa nicht genug? Und wie ist es mit dem Singen? Aber ausgerechnet in dem Moment hatte meine Stimme einen Totalausfall. Sie hat dann gemeint, ich müsse einfach noch etwas Geduld haben, und die Therapie würde erst einmal so weiterlaufen wie bisher.
Ich hab meinen Mund aufgemacht und wollte schreien. Weil das ja nicht ging, hätte ich mir fast irgendwas geschnappt und auf den Fußboden geschmissen. Damit das nicht passiert, bin ich dann einfach aus dem Zimmer gestürmt. Ich musste durch das Wartezimmer, und die Patienten, die da saßen und warteten, haben mich komisch angeguckt. Wobei, vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet.
Dann war ich endlich draußen, und ich wollte weiter nichts als mit jemanden reden. Oder mich wenigstens per WhatsApp unterhalten. Mit Elli oder meinem Vater. Doch Elli war mit den Zwillingen im Bad, und Unterwasserhandys gibt es noch nicht (vielleicht sollte das mal jemand erfinden). Und Papa, das hatte er mir am Morgen erzählt, saß um diese Zeit in einer Gerichtsverhandlung, und da konnte ich ihn unmöglich stören. Oma? Na ja, sich mit ihr am Computer zu unterhalten ist nicht so das Wahre. Wieder einmal hat mir Mama so, so sehr gefehlt.
Eigentlich gibt es ja keinen Tag, an dem ich nicht an sie denke – aber gerade in dem Moment habe ich sie so sehr vermisst, dass mir alles weh getan hat. Auf einmal hat es angefangen zu regnen und gleichzeitig schien die Sonne. Da hätte eigentlich ein Regenbogen auftauchen müssen. Ich habe zum Himmel hoch gestarrt und gewartet und gewartet. Mama hatte mir mal gesagt, ein Regenbogen würde Glück bringen. Ich habe gedacht, wenn ich einen sehe, wird mein Stimmband wieder funktionieren. Doch obwohl ich mir bald die Augen ausgeguckt und es mir so sehr gewünscht habe, ist kein Regenbogen aufgetaucht. Bedeutet das nun, dass ich nicht wieder reden lerne? Dass ich vielleicht für immer stumm bleibe und nie wieder singen kann? Ich glaube, dann will ich gar nicht mehr leben.
Ein Jahr hätte mein gelähmtes Stimmband Zeit, wieder zu funktionieren, hat Frau Doktor Birkner gesagt. Ein Jahr hat 365 Tage. Auch ohne Taschenrechner kann ich ausrechnen, dass bis zu einem Jahr noch 140 Tage fehlen. Das halte ich nicht aus.
Ich bin dann nach Hause gegangen und habe auf Papa gewartet. Doch gerade als ich dachte, dass er nun jeden Moment kommen würde, hat er mir eine Nachricht geschickt – dass er sich auf der Baustelle mit Katharina und dem Heizungsbauer trifft und es deshalb später wird.
Und nun sitze ich hier und warte immer noch. Elli habe ich eine Nachricht geschickt, doch sie hat mir nicht geantwortet. Und was ich keinem erzählen kann, weil ich eben überhaupt nichts erzählen kann, habe ich jetzt in mein Tagebuch geschrieben und tatsächlich ein bisschen geheult dabei. Obwohl ich das gar nicht wollte, und jetzt haben die Seiten ein paar Wasserflecke. Tränenflecke.
Ich bin irgendwie total fertig und eine richtige Heulsuse. Hätte ich mich doch bloß nicht operieren lassen! Diese OP hat mir alles kaputt gemacht. Ich fühle mich wie ein kleiner, aus dem Nest gefallener Vogel und so, als würde ich langsam in einem tiefen schwarzen Loch versinken, aus dem ich nicht mehr rauskomme.
Das kleine Käuzchen habe ich damals gerettet. Wer rettet mich?
299 Tage, Thamis Verlag, Neunhofen 2020
Der Abdruck erfolgt mit der freundlichen Genehmigung der Autorin.