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Carlotta oder Die Lösung aller Probleme

Klaus Jäger

 

Wenn sich schon die Erin­ne­run­gen, im Guten wie im Bösen, so in die humane Fest­platte ein­bren­nen, dass sie sich nicht mit ande­rem über­schrei­ben las­sen, was bleibt dann, wenn ich gehe, fragte sich Stad­ler. Wenn ich end­gül­tig gehe. Wenn da nie­mand mehr ist, mit dem ich diese Erin­ne­run­gen tei­len könnte. Und wieso „nie­mand mehr“? Es war ja nicht ein­mal jetzt jemand da, mit dem er den Moment tei­len könnte, geschweige denn die Erinnerungen.
Auf­schrei­ben, sicher, auf­schrei­ben könnte er alles. Doch war sein biss­chen Leben des Auf­schrei­bens wert? Würde es jeman­den geben, der das Geschrie­bene dann auch lesen wollte? Würde er es denn wol­len, dass Wild­fremde lesen, was ihm widerfuhr?
Immer­hin, seine Bei­träge wür­den Bestand haben. Für die Ewig­keit in den Archi­ven. Doch was bedeu­tete das schon. Er schrieb für eine Tages­zei­tung. In sei­nen ersten Jah­ren als Jour­na­list trö­stete ihn ein erfah­re­ner Kol­lege, als sich unbe­merkt ein Feh­ler ins Blatt geschli­chen hatte, ein ver­meid­ba­rer Feh­ler, ein Feh­ler, der Lau­renz Stad­ler pein­lich war. „Mein Gott, das ist eine Tages­zei­tung“, hatte der Kol­lege gedröhnt. „Im gün­stig­sten Fall schei­ßen mor­gen Abend die Wel­len­sit­ti­che drauf.“ Es hatte eine Weile gedau­ert, bis er den Witz begrif­fen hatte. Gelacht hatte er den­noch nicht dar­über. Denn die­ser Trost beinhal­tete zugleich eine fast schmerz­li­che Gewiss­heit, die er frei­lich damals noch nicht erkannte: Bei aller heh­ren Chro­ni­sten­pflicht – für eine Tages­zei­tung zu schrei­ben heißt, ver­gäng­lich zu sein. Jour­na­lis­mus kam von To jour, für den Tag; da gab es keine nen­nens­werte Halbwertzeit.
Aber genau das ist das Pro­blem, dachte sich Stadler.
Wem kann er, der Kin­der­lose, etwas wei­ter­ge­ben? Die Leh­ren sei­ner schein­bar so hart­her­zi­gen Mut­ter, die sich mit sei­nem eher sanf­ten Leben, sei­nem Stre­ben nach Kul­tur und Har­mo­nie und der rauen Wirk­lich­keit des poli­ti­schen Trei­bens in Rom zu einer so merk­wür­di­gen Mélange verquickten.
Ein Gras­halm, auf dem er gerade so gedan­ken­ver­lo­ren her­um­kaute, schmeckte schon ein wenig nach Heu. Seine Gedan­ken spran­gen in das All­gäu, in seine Kind­heit. Der Geschmack erin­nerte ihn auch an einen vor­züg­li­chen Tafel­spitz, den er ein­mal in einem schon geho­be­ne­ren Restau­rant in Süd­ti­rol ser­viert bekam: Er war in einem Heu­bett zube­rei­tet. Das Fleisch war von einer Kuh, die ihr Leben auf Berg­wei­den ver­bracht hatte. So schmeckte man die Würze der Berg­kräu­ter nicht nur in dem mage­ren, aber kräf­ti­gen Stück Fleisch, man schmeckte auch den Duft des Heues.
Lau­renz Stad­ler war längst allein auf der Ter­rasse, als ein Geräusch ganz in sei­ner Nähe ihn auf­schreckte. Es hörte sich an, als sei direkt neben ihm etwas ins Gras gefal­len. Er öff­nete träge die Augen und sah, wie sich am Rande sei­nes Gesichts­fel­des etwas Dunk­les bewegte. Mit einem Ruck rich­tete er sich auf und sah einer raben­schwar­zen Katze direkt ins Gesicht. Die Katze, die wohl nach Beute gehascht hatte, war ebenso erschrocken wie er. Mit weit­auf­ge­ris­se­nen bern­stein­gel­ben Augen starrte sie ihn eine Sekunde lang ver­blüfft an, sprang dann fast senk­recht nach oben und stob davon.
Micio, du lässt mich nicht gehen, dachte er in einer Mischung aus Schreck und Freude.
Stad­ler spuckte den Halm aus, stand auf und befahl sich Rea­lis­mus. Er klopfte sich den Staub und das Gras aus der Kleidung.
Wenig spä­ter hörte er ein lei­ses Plät­schern, als würde sich hier in der Höhe, zwi­schen Fels und Stein sogar noch eine Quelle befin­den. Lang­sam hielt er auf das Geräusch zu und kam dabei den Ker­ker­mau­ern immer näher. Er trat vor­sich­tig auf, immer auf der Hut vor plötz­li­chen Fuß­an­geln oder Hohl­räu­men, aber mehr noch vor Schlan­gen, für die die­ses Areal doch das Para­dies sein musste. Je näher er dem Geräusch kam, umso mehr ver­än­derte es sich. Aus dem lei­sen Plät­schern war erst ein Spru­deln gewor­den, inzwi­schen hörte es sich an wie ein Bro­deln. Und dann, er war höch­stens noch zwan­zig Meter von den mäch­ti­gen Mau­ern ent­fernt, sah er es: Zwi­schen ihm und dem Gefäng­nis tat sich ein gewal­ti­ger Schlund auf, der bis hin­un­ter ins Meer reichte. Und das Geräusch kam von den Wel­len, die sich brül­lend und schäu­mend an den Fels­mau­ern abar­bei­te­ten. Er prüfte sorg­fäl­tig, ob seine Füße noch Halt fan­den, und beugte sich ein wenig vor. Da konnte er die Gischt­kro­nen sehen. Ein fal­scher Tritt und du bist weg, wür­dest unten auf den Fel­sen zer­schel­len, ein will­kom­me­nes Fut­ter für die Fische. Dein Ske­lett würde nie­mand fin­den, diese schmale, tosende Schlucht befuhr sicher­lich nie­mand mit sei­nem Boot.
Und wenn es nicht ein fal­scher Tritt wäre, son­dern eine ganz bewusste Ent­schei­dung? Lau­renz stellte sich vor, wie er an der Kante zu dem Abgrund stand. Die Augen geschlos­sen, die Arme weit aus­ge­brei­tet. Ein letz­tes, ein ehr­li­ches Gebet zum Schöp­fer, nur die Ankün­di­gung, dass man gleich komme, und dann nach vorn kip­pen. Wie Flie­gen würde es sein, wenn der Kör­per den Kon­takt zum Boden ver­liert. Das Meer noch so unend­lich weit und doch rast es auf dich zu. Unsag­bar schön und unsag­bar schnell. Er würde tot sein, wenn er unten auf­schlägt. Und doch könnte er flie­gen, die­ses kurze lange Stück den Fel­sen ent­lang, mit den Ufer­schwal­ben um die Wette, die sich und ihn ver­wun­dert ansä­hen auf sei­nem Flug. Man sagt, dass in den Momen­ten vor dem Tod das Leben an einem vor­bei­zöge. Was würde er sehen? Sein gan­zes Leben? Dafür reichte die Zeit nicht. Die ganze Welt? Die ganze Wahr­heit? Oder doch nur die Schaum­flocken, die der Wind den Wel­len ent­riss, und das Blau des Was­sers, im Son­nen­licht auf­blit­zend wie fun­kelnde Dia­man­ten. Nur Sekun­den, bis der Tod ihm krei­schend entgegenflog.
Er zuckte zusam­men, erschrocken wich er einen Schritt zurück. Wie lange hatte er hier gestan­den? Hatte er wirk­lich die Augen geschlos­sen gehabt? Wie leichtsinnig.
Er zog das Leder­säck­chen mit den Mur­meln aus sei­ner Hosen­ta­sche, wog es in der Hand. Er fin­gerte eine Mur­mel her­aus, ging vor­sich­tig wie­der einen Schritt nach vorn und warf die Mur­mel in hohem Bogen in die Schlucht. Im glei­chen Augen­blick hatte er sie aus den Augen verloren.
Lau­renz Stad­ler hef­tete sei­nen Blick wie­der auf die Festung. Wie erst, so fragte er sich, müsste diese Schlucht den Insas­sen des Ker­kers vor­kom­men? Kleine Fen­ster waren in die Mau­ern gelas­sen, mit Eisen­stä­ben gesi­chert und von einer Größe, die er von hier aus nicht abschät­zen konnte. Ein­mal zuckte er zurück. Waren da nicht zwei Hände zu sehen, die sich an die Git­ter­stäbe klam­mer­ten? Eine opti­sche Nar­re­tei. Wenn so ein Straf­ge­fan­ge­ner, ein­ge­sperrt viel­leicht auf Lebens­zeit, denn die klei­nen Fische kamen schließ­lich nicht nach Pro­cida, wenn so ein Straf­ge­fan­ge­ner nach lange vor­be­rei­te­tem Flucht­plan, mit einem sta­bi­len Strick zum Absei­len um den Leib dann die Git­ter­stäbe über­wun­den hatte, wie groß musste seine Ent­täu­schung sein, wenn er in den Abgrund blickte. Die Lücke war keine zehn Meter breit – sie hätte für die Men­schen auf bei­den Sei­ten genauso gut zehn Kilo­me­ter breit sein kön­nen, sie war schlicht unüber­wind­bar, bemühte man nicht die Fan­ta­sie eines Ian Fle­ming, des­sen James Bond wohl auch diese Kluft mit­tels irgend­ei­nes cinea­sti­schen Tricks über­wun­den hätte.
Stad­ler wandte sich um und suchte sich einen Rück­weg. Am Durch­gang zu den Arka­den saß wie­der eine schwarze Katze mit gel­ben Augen. War das die­selbe, die ihn vor­hin aus dem Schlaf geholt hatte? War sie ihm etwa gefolgt? Sie schien ihn gar nicht zu beach­ten, erst als er ver­harrte, wurde sie auf­merk­sam. Als er „Micio, Micio!“ rief, lief sie mit steif auf­ge­rich­te­tem Schwanz davon. Viel­leicht ver­stand sie ja kein Ita­lie­nisch. Lau­renz Stad­ler war nicht aber­gläu­bisch, aber unge­ach­tet sei­ner Abkehr vom Wun­der­glau­ben der katho­li­schen Kir­che war er sehr wohl davon über­zeugt, dass es zwi­schen Him­mel und Erde Dinge gab, die sich dem Zugang durch die soge­nann­ten Natur­wis­sen­schaf­ten auf Dauer ver­schlie­ßen. Und er glaubte daran, dass es zwi­schen Lebe­we­sen, so unter­schied­lich sie auch sein moch­ten, rät­sel­hafte Ver­bin­dun­gen gab. Natür­lich konnte die­ses wie­der­holte Zusam­men­tref­fen zufäl­lig sein, außer­dem könnte es eine ganz andere Katze sein. Aber wenn es sich um das­selbe Tier wie vor­hin han­delte, dann hatte diese zweite Begeg­nung auch ihren Sinn.
So ein Schmarrn, wischte er seine vaga­bun­die­ren­den Gedan­ken beiseite.


aus: Car­lotta oder Die Lösung aller Pro­bleme, Ver­lag Tasten & Typen, Bad Tabarz 2020.
Alle Rechte beim Verlag.
Der Abdruck erfolgt mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Ver­lags und des Autors.

 

 

 

 

 

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