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Das Menschen-Museum

Olaf Trunschke

 

FIRMA

Zuge­ge­ben, unsere Zunft ist klein. Doch hat sie Zukunft: Meine Kund­schaft umfaßt ein­fa­che Käu­fer glei­cher­ma­ßen wie höch­ste Kreise. Ich mache Feinde.
Gleich­gül­tig, ob es sich um einen Gegen­spie­ler han­delt, der Schuld am Schei­tern ihrer Kar­riere trägt; oder wird ein Sün­den­bock benö­tigt, gegen den sich die ver­zankte Gemein­schaft ver­bün­den kann; oder brau­chen, um die Erhö­hung der Aus­ga­ben zu recht­fer­ti­gen, die Sicher­heits­or­gane für die öffent­li­che Vor­füh­rung einen Feind der Ord­nung: Ich lie­fere das Pas­sende für jeden Bedarf. Einige der erfolg­reich­sten Feind­bil­der stam­men aus mei­nem Studio.
Der Ent­wurf eines Fein­des ver­langt viel Fein­ge­fühl und unter­liegt der Mode. Bevor­zugte man noch vor weni­gen Jah­ren einen häß­li­chen Feind, so wählt ihn der heu­tige Geschmack wie aus dem Fern­se­hen: zwar von mie­sem Cha­rak­ter, doch nicht ohne Charme.

Natür­lich ist die Fer­ti­gung eines Fein­des Berufs­ge­heim­nis, aber selbst ein geschickt plat­zier­tes Gerücht hat schon gute Feinde gemacht.
Beson­ders junge Men­schen bie­ten bestes Mate­rial: Als Feind behan­delt, wach­sen sie fast von selbst in ihre Rolle.

So erfüllt unsere Zunft eine wich­tige Auf­gabe im öffent­li­chen Leben. Ein Nach­teil des Gewer­bes aller­dings berei­tet mir Kopf­zer­bre­chen: Berufs­be­dingt weiß ich, und das ver­zeiht mir schließ­lich kei­ner, um die geheim­sten Schwä­chen all mei­ner Käu­fer. Jeder zufrie­dene Kunde erblickt des­halb irgend­wann in mir sei­nen Feind.

 

BEGEGNUNG MIT MEDUSA

Würde wer lesen im Gesicht der alten Frau, das sich stützt in welke Hände, und ver­ste­hen die Schrift, er könnte den Blick nicht wen­den von Augen, Haar und Kleid, kei­nen Schritt mehr gehen, wie ver­stei­nert auf offe­ner Straße.

 

DER MONAT MONIKA

Der Monat Monika ist ein spä­ter Monat: Zufäl­lig bricht er her­ein und bringt das Jahr aus der Bahn. Plötz­lich beginnt alles hef­tig zu
blü­hen (dann berich­ten die Zei­tun­gen dar­über), als wollte sich das ver­stri­chene Jahr in weni­gen Tagen wie­der­ho­len; selbst die knor­ri­gen Äste
trei­ben … Bald aber siegt wie­der die Regel:

Wind und Regen, wie es die Jah­res­zeit vor­schreibt. Der Monat Monika ist ein kur­zer Monat und bricht zufäl­lig her­ein: mal früher,
mal spä­ter. Meist aber wird er gar nicht bemerkt und ist schon nach weni­gen Augen­blicken vor­über. Manch­mal trägt er auch ganz andere Namen. Des­halb steht er in kei­nem Kalender.

 

SPRACHVOLLZUG

Mein vor­lau­tes Schwei­gen war im Gewäsch ohr­fäl­lig gewor­den: Ich wurde zur Rede gestellt. Über­zeugt vom Recht auf klare Töne, ließ ich mich hin­rei­ßen, den Anwe­sen­den meine Mei­nung zu flüstern …

Zu spät begriff ich die Stille im Saal: Plötz­lich tra­ten ver­schie­dene Mei­nun­gen auf und ver­lang­ten Gehör. Zwi­schen­rufe wur­den laut, Gegen­stim­men: Eine offene Debatte drohte!

Es muß­ten Schlag­zei­len ein­ge­setzt wer­den. Ich wurde über­stimmt und zum Platz abge­führt. Stö­rung von Rede und Ant­wort, lau­tete die Anklage; das Straf­maß: Wort­ent­zug. Bei Wider­rede – Mundtot.


aus: Das Men­schen-Museum, octO­pus Ver­lag, Ber­lin 1989.

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