Bernd Ritter
Vor Zeiten stand die Welt in anderer Ordnung. Es gab zum Beispiel das kleine Kaiserreich Regensberg und das noch kleinere Fürstentum Gräfenhorst und drum herum viel unbekanntes Land. Beider Herrscher Untertanen mochten sich, – sie pflegten gemeinsame Erinnerungen und wären gern zusammen gegangen, doch der misstrauische Fürst von Gräfenhorst und der selbstgefällige Kaiser von Regensberg lebten in Angst, vom neidischen Nachbarn heimlich unterwandert oder offen angegriffen und ihres Besitzes beraubt zu werden. Sie zogen Soldaten ins Heer, ließen Grenzpfähle in die Wiesen und Felder schlagen und Wachen aufstellen. Jeder Grenzgänger ward plötzlich Spion, peinlich durchsucht und oft genug verhaftet. Manch vorlauter Bursche zahlte seinen Übermut gar mit dem Leben.
Da verdarben die Früchte auf den Feldern und die Wiesen wurden sumpfig. Und kein Gräfenhorster sah noch einen Regensberger und umgekehrt. Man wurde sich fremd. Der beiden Flecken Souveräne waren zufrieden. Sie fühlten sich nun sicherer. Der Kaiser entwarf jeden Tag kunstvolle Schränke und Tische für seine Gemächer, – und der Fürst notierte jede Nacht den Geldbetrag, den er gespart zu haben wähnte durch die Verhinderung von Unnutz, wie er es nannte. Er liebte die Stille.
Der Kaiser war verschwenderisch, und dennoch ging er jeden Morgen reinen Gewissens an seine Geschäfte. Er mochte nicht an ein Gestern denken. Das Wort durfte in seiner Gegenwart nicht einmal geflüstert werden.
Sein Gegenpart, der Fürst, war eigenbrötlerisch und mürrisch. Er hasste das Heute und Morgen, denn er hatte kein Bild davon. Um der bedrohlichen Zukunft zu entgehen, forschte er in der Vergangenheit. Gern hörte er sich darin von den Hofschranzen bestätigt: »Wie war das damals schön, mein Fürst. Wie klug habt Ihr damals entschieden. Wie tapfer wart Ihr damals.« Das Wort DAMALS wurde von der fürstlichen Akademie alljährlich zum Wort des Jahres gewählt. Einstimmig!
Angesichts dieser zementierten Zweisamkeit und zigfachen Langeweile könnten wir dieses Buch wieder schließen, wären da nicht Dinge geschehen, die die Welt beinahe verändert hätten: ein frühes Wetterleuchten der Geschichte sozusagen.
Der Fürst von Gräfenhorst hing – wie wir wissen – der Vergangenheit nach und hielt nichts von den Ungewissheiten der Zukunft. Das Fehlen von Neuigkeiten war ihm die liebste Neuigkeit. Archivare und Chronisten machten an seinem Hofe Karriere, Uhrmacher hingegen ließ er wegen ihrer halßstarrigen Bezeugung in den Turm sperren – bei Wasser und Brot, dass sie sich nach ihrem schönen früheren Leben sehnen. Nach seiner Überzeugung war die Zeit endlich und ihre Verschwendung Sünde und die Uhrmacher die ausgemachtesten Verschwender, weil sie täten, als gäbe es die Zeit im Überfluss, nur weil sich die Zeiger ihrer Uhren endlos im Kreise drehten. Alle Zeitmesser wurden per Dekret aus dem Verkehr gezogen, stillgelegt, eingeschmolzen. Natürlich murrten die Handwerker und Leineweber – doch sie taten es in aller Stille, hinter vorgehaltener Hand.
2
Man kann von einem Volke nicht erwarten, dass es so mir nichts dir nichts und von heute auf morgen ein Gebäude niederreißt, das Horden von Propheten in Jahrhunderten aufgerichtet hatten, – man muss jedoch bedenken, dass ein Volk irgendwann einmal das tut, was ihm gefällt: Und das Völkchen von Gräfenhorst entpuppte sich als eine Schar von Uhrennarren.
Ja, die Gräfenhorster sammelte plötzlich Uhren!
Natürlich nur die schönsten Stücke, die wahren Kunstwerke – und ausschließlich solche, die ihren Geist aufgegeben. Denn der Fürst argwöhnte Revolution und befahl die Konstituierung einer Sonderbehörde: Alle Chronometer mussten zur Prüfung eingereicht werden und nur jene, die das Prädikat: Fürstlich Anerkanntes Sammlerstück erhielten, durften im Privatbesitz verbleiben. Die Staatsräson setzte sich durch. Jeder hielt sich an die Regeln.
Doch nach und nach und im Verborgenen wuchs Widerspruch. Geschickte Hände setzten heimlich die verplombten Wunderwerke wieder in Gang. Keiner prahlte damit, aber jeder Sammler wusste von jedem Sammler, dass es solche Einzelfälle des Widerstandes gab.
Eines Tages, so zwischen elfuhrdreißig und elfuhrdreiunddreißig, brach dann der Aufstand los. Erst stritten zwei Herren, schon am Morgen vom guten Weine trunken, ob des einen oder des anderen Chronometer die rechte Zeit anzeige. Ein Dritter wollte schlichten: Genauigkeit sei nicht das Wichtigste. Und plötzlich war das große Handgemenge da: Körper, Flaschen und Gläser stürzten zu Boden und Fensterscheiben klirrten. Die Streithähne nahm man in Gewahrsam, doch die Krume war gebrochen und die Saat ging auf: Dispute auf dem Rathausplatz, Aufruhr in den Gassen. Nächtelang. Tagelang.
Da war guter Rat teuer. Der Fürst hatte gute Ratgeber: Seine Hoheit müsse dem Unmut der Leute den Boden entziehen. Seine Hoheit müsse legalisieren, was heimlich ohnehin wuchert und bedrohlich wächst. Seine Hoheit müsse wieder eine öffentliche Zeitmessung einführen, die für alle verbindlich sei. Kurz: Gräfenhorst brauche wieder eine öffentliche Uhr. Der Fürst zögerte eine Mittagsstunde lang und überraschte dann mit dem Dekret: Man baue eine Sonnenuhr. Ein großer Künstler aus fernen Landen wurde gerufen. Der stolze Mann staunte nicht schlecht, als ihm verkündet wurde, dass sein Meisterwerk die nördliche Schlossfassade zieren sollte, – bis dahin Zeugnis der Verödung.
Da komme das ganze Jahr keine Sonne hin, wusste der kluge Meister, doch er zuckte nur kurz mit der Schulter, dachte sich, dass an seinem Gewerbe nicht das mindeste Unrecht sei, und begann mit der Arbeit. Der Lohn war unerwartet fürstlich.
Die Gräfenhorster staunten über die große Kunstfertigkeit des Fremden und bewunderten täglich den Fortschritt seines Schaffens. Sie waren regelrecht blind vor Stolz: Sie hatten dieses Werk dem Fürsten abgerungen. Siegestrunken ließen sie sich nicht einmal von der Erkenntnis beirren, dass ihre Sonnenuhr ohne Sonne niemals funktionieren könne. Einmal im Jahr, vom siebzehnten bis zum fünfundzwanzigsten Juni, jeweils eine halbe Stunde lang, würde das Prachtstück erstrahlen! Natürlich war das ein Kompromiss, aber einer, der beiden Seiten – sowohl dem Fürsten als auch seinem Volke – die Möglichkeit bot, sich als Sieger zu fühlen.
Der innere Frieden Gräfenhorsts schien zeitlos, doch hielt er nicht lange. Hätte er das Land länger gelähmt, wäre er uns keine Zeile wert gewesen.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Alle Rechte beim Autor.