Matthias Biskupek
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Es täte gut, ab und zu auf die Wörter von gestern zu hören. Da stecken unsere Geschichten, unsere Vor-Leben drin. In Museen stehen die Dinge herum und setzen Staub an. In der Sprache bleiben Dinge lebendig, auch wenn wir oft nicht wissen, wie und wo unsere Wörter einst ihr munteres Leben begannen.
Das ist ein altes Reff, sagte meine Mutter, die innerhalb ihres meist sanft singenden Leipziger Gewandhaussächsisch gelegentlich Ausdrücke ihres Vaters Robert Haedler benutzte. Robert, dessen Wurzeln tief in jener Gegend steckten, wo Thüringen, Sachsen und Franken zusammenstoßen, sprach nicht nur derbe, den Liberalismus preisende Wahrheiten wie »Jeder scheißt in seine Hose« gelassen aus. Er wertete auch den heraufgezogenen rohen Kapitalismus auf eigene Weise: »Die armen Leite sind selber dran schuld, warum hamse keen Geld!« Er setzte ebenso gern Bosheiten über seine Mitmenschen in die Welt. Ein altes Reff war aus Roberts Sicht eine zickige, mäkelnde, rechthaberische, eine därrwänstige Frau. Eine, die womöglich Mieder aus Fischbeinstäbchen trug. So steckte dieser Ausdruck mein bisheriges Leben lang in meinem Sprach-Unterbewußtsein.
Erst beim Durchstreifen des thüringischen Kräutergartens fällt mir die eigentliche Herkunft vom alten Reff auf: Das »ref«, niederdeutsch »rif« ist von der Wortbedeutung her ein Kadaver, also das von einem Lebewesen übriggebliebene »Gestell«. Das Gestell auf dem Rücken, mit dem man weit in die Welt die Destillate der Kräuter transportieren konnte, war eigentlich ein Gerippe. Ein Gerippe, in dem allerdings hochaufgestapelt das Leben im Wortsinne steckte: Lebenselixiere, Lebensöle, Labsale.
Im »alten Reff« war aber kein Leben mehr – und Opa Robert nutzte diesen sprechenden Begriff trefflich, um sich unbeliebt zu machen.
Auch das Wort »verhökern« muss just zu Roberts Jugendzeit, am Ausgang des 19. Jahrhunderts, endgültig zum Unwort geworden sein. Die Hucke des Hausierers war dessen ein und alles, ein Laden auf dem Rücken, die mobile Immobilie, ein mitwandelndes Lehen. Händler, die etwas auf sich hielten, hatten damals längst feste Standorte, nicht nur in der noblen Messestadt Leipzig. Der Kunde ging zum Kaufmann und trug die Ware heim – nicht wie im ausgehenden Mittelalter, als der Verkäufer zum Kunden ging und seine Ware an dessen Hoftor anbot. Das für den Kunden eigentlich bequeme Verhökern war endgültig zum unseriösen Haustürgeschäft geworden.
Mit dem Niedergang der Balsamträger, der Hucker, Verhökerer und Buckelapotheker im 19. Jahrhundert, als die schwarzburgische Landesregierung sich immer neue Verordnungen einfallen lassen mußte, um ihre Landeskinder vor den ausländisch-sächsischen Polizeibehörden zu schützen, war auch das Wort in Verruf gekommen. Verhökert wird, was nichts wert ist. Die pharmazeutische Industrie, die ihre einzeln wirtschaftenden Konkurrenten aus dem Waldland endgültig loswerden wollte, streute die Kunde von ihren angeblich viel besseren Mittelchen mit allüberall geschalteten Anzeigen weit in die Welt. Und bot alles in ihren Läden viel billiger an. Die mit realen Tinkturen und Essenzen »auf ihren Strich« ziehenden Reff-Träger, bei denen Produktion und Verkauf noch in einer Hand waren, unterlagen nach und nach den Vertriebsmethoden der Industrie und jenen heute immer reger werdenden Pharma-Beratern mit ihren Geschenken, mit kostenlosen Arzneimittel-Mustern und einer Gesundheitslobby, wahrlich bis in die Amtsstuben des Bundestages hineinregierend. Denn erst im Zeitalter von aggressiven Drücker-Kolonnen und einem Internet-Handel, der die Naiven arm und die Gewieften reich machen kann, denken wir fast mit Wehmut an die guten alten Verhökerer mit ihrem guten alten Reff zurück.
aus: Streifzüge durch den Thüringer Kräutergarten, Leipzig 2007.
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Mit freundlicher Genehmigung des Autors.