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Der Brandenburger Tor

Olaf Trunschke

 

Über Ber­lin wird viel geschrie­ben. In Ber­lin wird viel gere­det und geschrie­ben: Klu­ges und När­ri­sches. Für man­che Berufe scheint Nar­re­tei die beste Emp­feh­lung. – Was aber sähe ein beru­fe­ner Narr, ginge er heute mit dem Nar­ren­schiff in Ber­lin vor Anker? – Im Nar­ren­spie­gel betrach­tet, erscheint an der Haupt­stadt vie­les befremd­lich … Ja, gera­dezu außerirdisch:

Ali­ens. Sie leben unter uns: in gewis­sen Vier­teln ( Kastell), die kein Poli­zist zu betre­ten sich mehr traut, an deren Gren­zen die irdi­schen Gesetze versagen.
Ihre Kolo­nien ver­las­sen sie kaum. Sie hau­sen in abge­wrack­ten UFOs auf Bra­chen und am Rande der Flug­hä­fen. – Man erkennt sie sofort am fre­chen Blick. Kul­tur ( Hei­mat) haben sie keine. Ihre Absich­ten: unbekannt.
Ledig­lich am Tag des außer­ir­di­schen Mit­bür­gers, wenn der Geruch ( Luft) extra­ter­re­stri­scher Genüsse ums Quar­tier streicht, ahnen wir etwas vom Uni­ver­sum mit­ten im schmut­zig­sten Win­kel der Stadt.

Pis­soirs. Seit jeher waren die acht­ecki­gen Häu­ser aus Eisen Orte des öffent­li­chen Lebens.
Wich­tige Ent­schei­dun­gen wur­den gefällt, Ver­ab­re­dun­gen getrof­fen: Hier war die Macht mit Hän­den greifbar.
Der all­ge­meine Ver­fall gab auch diese Plätze deut­scher Kul­tur ( Aka­de­mie) dem Rost anheim. In einem der letz­ten und schön­sten Pis­soirs fand schließ­lich das Mini­ste­rium für Arbeit seine Heimstatt.

Poli­tik. Die große Seu­che unse­rer Zeit. Viele tra­gen in sich jah­re­lang den Keim, bevor die Krank­heit zum Aus­bruch ( Virus) kommt. Dann aber besteht auf Hei­lung kaum mehr Aussicht.
Der Ver­such, die Betrof­fe­nen in grö­ße­ren Grup­pen, soge­nann­ten Par­teien, einer The­ra­pie zuzu­füh­ren, blieb bis­lang ohne Erfolg.
Im letz­ten Sta­dium, der hei­ßen Poli­tik, gewinnt der Wahn ( Papier) mehr und mehr an Macht und drängt zur Tat: Der Befal­lene wird eine öffent­li­che Gefahr.
Ber­lin ist gezeich­net von den Spu­ren der Politik.

Denk­mä­ler. In Paris das Pan­theon, in Lon­don West­min­ster, in Mos­kau die Kremlmauer –
jedes Land pflegt so seine Tradition.
Auch Preu­ßen hat eine eigene Methode für seine unsterb­li­chen Hül­len. – Zeit ihrer Macht durch­drun­gen von deut­schem Geist ( Thea­ter), erstar­ren sie rasch: Ein leich­tes Klir­ren beim Lau­fen, die stol­pernde, schep­pernde Stimme sind erste Anzeichen …
Der Rest: Gips, Rost und Blei. – So lie­gen sie schließ­lich dem Bau­ge­werbe im Wege und bela­sten die Umwelt. Des­halb wer­den in Ber­lin die toten Herr­scher nicht bei­gesetzt, son­dern aufgestellt.

 


aus: Der Bran­den­bur­ger Tor. Ein Führer
© 2007 Amok:Books Berlin
ISBN 978–3‑86157–100‑1

3. Preis beim 1. Inter­net-Lite­ra­tur­wett­be­werb von IBM und DIE ZEIT im Jahr 1996

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