Jeden Abend läuft aus dem Hafen von Mytilene ein Schiff der griechischen Küstenwache aus. Es ist dunkelgrau und mit großen Suchscheinwerfern ausgestattet. Es lässt schon bald die Bars, Restaurants und Hotels an der Hafenpromenade hinter sich und hält auf die Mitte des dunklen Gewässers zu, das zwischen Lesbos und der türkischen Küste liegt. Es verkehrt genau dort, wo in antiken Mythen der schöne Phaon seine Fähre lenkte. Doch anders als er, der Menschen zwischen Lesbos und Kleinasien transportierte, patrouilliert die Küstenwache, um derlei Transporte zu entdecken und in vielen Fällen zu verhindern. Einem voll besetzten Schlauchboot wird dann der Außenbordmotor zerstört. Derlei Aktionen zum Zurückdrängen von Personen ohne Aufenthaltstitel für das nächstgelegene Grenzland, ganz gleich, ob es sich um Alte oder Kranke, Erwachsene oder Kinder handelt, heißen ›Push-backs‹. Die Praxis war in Europa lange Zeit umstritten, inzwischen ist sie gängig. Am 13. Februar 2020 revidierte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg sogar ein eigenes Urteil von 2017. Er erklärte im Falle zweier Männer, die […] über den Grenzzaun der spanischen Enklave Melilla geklettert waren, Push-back-Aktionen seien unter bestimmten Umständen erlaubt; etwa dann, wenn von legalen Möglichkeiten der Einreise kein Gebrauch gemacht wurde. Inwiefern es diese Möglichkeiten überhaupt gibt, eruiert das Urteil nicht. […] Ach, wäre die Erde doch eine unendliche Scheibe! Dann gäbe es womöglich keine Grenzen und keine Lager wie die von Lesbos, Samos und Kos und wo sie sonst noch existieren. Die Erde hat aber eine Kugeloberfläche, auf der sich die Menschen »nicht ins Unendliche zerstreuen können«. So formulierte es Immanuel Kant 1795 in seiner Schrift Zum ewigen Frieden. Und weil sie sich nicht zerstreuen können, so schreibt er weiter, müssen sie »endlich sich doch neben einander dulden«. Es gibt keine Möglichkeit, sich auszuweichen, sich aus dem Weg zu gehen. Zudem ist die Oberfläche der Erde grundsätzlich im Besitz aller. Natürlich hat es Menschen gegeben, die, aufgrund früherer Geburt, eher an einem Ort waren als andere. Aber ursprünglich, betont Kant, hat »niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht […] als der andere«. […] Aus diesen beiden Voraussetzungen – der Endlichkeit der Erdoberfläche und der Erde als Allgemeinbesitz – leitet Kant ein sogenanntes ›Weltbürgerrecht‹ ab. Menschen seien in der Regel nicht nur Angehörige eines bestimmten Staates, in dem sie bestimmte Rechte besitzen. Sie seien zugleich auch Angehörige der Welt insgesamt. Als solche genießen sie laut Kant ebenfalls ein Recht. Den Kern dieses Rechts bezeichnet er als »Hospitalität«, das heißt »das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden«. Es ist, so Kant, jedoch nicht als »Gastrecht« misszuverstehen. Es gibt also aus seiner Sicht keinen […] Anspruch darauf, beliebig lange an einem Ort zu bleiben. Aber es gibt das Recht, zunächst einmal ohne Feindseligkeit empfangen zu werden. […] Die Wirklichkeit aber sieht anders aus: Sie ist so steinig wie der Boden von Kara Tepe, so stinkend wie die Mülltonnen, die dort stehen, so eng wie die Zelte, in denen die Menschen sich drängen. Sie ist schmutzig, und sie ist dreckig, diese Realität, und je länger man sie beobachtet, je länger man sich in ihr bewegt, desto schlechter kann man sich des Eindrucks erwehren, dass sie kein Zufall ist, keine Notlage, die bald behoben sein wird. Sie ist pure Absicht. Sie ist, wie die amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown es genannt hat, Teil einer Inszenierung, die seit einigen Jahren in Europa, aber auch in anderen Teilen der Welt aufgeführt wird: einer Inszenierung von Kontrolle und Souveränität in einer Welt, die aufgrund der Globalisierung von nicht wenigen Menschen zunehmend als unkontrollierbar empfunden wird. Hauptrequisit dieser Inszenierung stellen die Mauern und Zäune dar, die überall vermehrt gebaut werden: zwischen Indien und Bangladesch, um Bethlehem herum, zwischen den USA und Mexiko, zwischen Saudi-Arabien und Jemen, zwischen Ungarn und Serbien. Dabei sind sie im Grunde ein Paradox: Denn während für Waren und Dienstleistungen im Zeitalter der Globalisierung Zölle und andere Handelsschranken zunehmend abgebaut werden […], werden gegen Menschen Mauern und Zäune errichtet. Ihre Sprache ist eine andere als die der Freihandelsabkommen, die ungehinderten Warenverkehr versprechen. Anstatt für Offenheit stehen sie für Abschottung und sagen: Bleibt, wo ihr seid! Kommt nicht her! Bildet euch nicht ein, hier erwünscht oder überhaupt nur geduldet zu sein! Sie sind in diesem Sinne das Gegenteil von Kants Idee der Hospitalität. Sie sind ein Signal der Feindlichkeit und der Abwehr, und eine Insel wie Lesbos wird aufgrund ihrer geografischen Lage, aufgrund historischer Zufälle, plötzlich zu einem Außenposten der Festung Europa, an dem die ›wilden Horden‹ kampieren. Dass diese ›Horden‹ Menschen sind, Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, keine andere Möglichkeit gesehen haben, als auf diese Weise nach Europa zu gelangen, lässt sich leicht vergessen. Es lässt sich ebenso vergessen wie der Umstand, dass die Grenzen, an denen sie ausharren, keine natürlichen Grenzen sind. Sie sind Linien auf Karten. Auf dem Papier wirken sie harmlos. In der Meerenge zwischen Griechenland und der Türkei jedoch entfalten sie große Brutalität. Dabei könnten sie genauso gut wieder verschwinden. Sie könnten verschwinden, wie beispielsweise die innerdeutsche Grenze es 1990 getan hat. So lange sie aber existieren, sind sie für die einen, das heißt für diejenigen, die wie ich das Glück haben, einen deutschen Reisepass zu besitzen, einfach nur Grenzen, die teilweise unbemerkt und oftmals unbehelligt überquert werden. Für andere hingegen sind sie die Grenzen des Glücks.
aus: Anselm Oelze: Die Grenzen des Glücks. Eine Reise an den Rand Europas, S. 63–64/ 74–79, © Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH, Frankfurt am Main 2021. Alle Rechte beim Verlag Schöffling & Co, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.