Wolfgang Held
Es passierte Mitte der 1960er Jahre, genauer an einem Freitag. Nach der Zusammenkunft der Mitglieder und Kandidaten des Politbüros der SED in Berlin und der darauf stattgefundenen Beratung aller Sekretäre der SED-Bezirksleitung tagte das gewählte Gremium des Büros der SED-Kreisleitung. Jeden Freitag. Bei jedem Wetter. Teilnahme eines Journalisten aus der Kreisredaktion zwingend! Unentschuldigtes Fehlen wurde nie gewagt. Schließlich ging es hier ganz aktuell um die führende Rolle in der Stadt. Das Rollen währte Stunden. Ob in Wirtschaft oder Kultur, im sozialen oder sportlichen Bereich, alles musste hin und her, hoch und herunter durchgerollt werden, bevor Maßnahmen beschlossen und an Oberbürgermeister, Stadträte und Abgeordnete zur Ausführung „durchgestellt« wurden. Befehlsähnlich. Das waren immerhin ernsteste Angelegenheiten. Jedenfalls kommunal bewertet. Lautloses Kichern, versteckt hinter streng-ernsten Mienen, blieb dabei, weil existenzgefährdend, persönliche Geheimsache. So zum Beispiel die Angelegenheit mit dem Klopapier.
Das für Handel und Versorgung zuständige Büromitglied meldete an jenem Freitagvormittag zum Tagesordnungspunkt Bevölkerungsbedarf, dass kilometerweit im Stadt- und Landkreis in allen einschlägigen Verkaufsobjekten schon seit einer Woche kein Klopapier mehr angeboten werden könne. Nicht eine einzige Rolle! Nicht einmal hinten herum als Bückware für bevorzugte Kundschaft. Rollen weder in der üblichen, Sandpapier ähnlichen Qualität, noch zwei- oder sogar dreilagige Importware. Es müsse etwas geschehen, alarmierte Genosse Handel und Versorgung. Unbedingt! Schon aus Gründen des internationalen Ansehens hinsichtlich der Touristen! Zumal in einer Kulturstadt. Goethe, Schiller, Herder, Wieland, aber kein Papier im WC, Munition für den Klassenfeind ist das, Genossen! Die Sache ist also sowohl von politischer wie kultureller und nicht zuletzt auch von hygienischer Bedeutung. Einstimmiger Beschluss: Sofortige Lösung!
Gut und schön, aber wie, Genossen? Macht Vorschläge! Der für Gesundheitswesen zuständige Sekretär erinnerte vorsichtig an längst vergangene Zeiten. Weltwirtschaftskrise vor Dreiunddreißig, Nachkriegsjahre 1945 und später, heute noch hier und da üblich nahe von Rastplätzen an der Autobahn, bei jugendlichen Campern und in ländlichen Gegenden oder so. Damals, in der Hunger- und Aufbauzeit, hingen beinah im Klosett einer jeden bewohnbaren Unterkunft handlich geschnittene Zeitungsblätter in Reichweite der Bedürftigen am Strick. Und an Zeitungen fehlt es auch heutzutage nicht im Revier! Für bedürftige Nichtbezieher könnte man ja die Jungen Pioniere zu Extrasammlungen einsetzen oder manches wischgeeignete wieder bei den Sammelstellen heraus holen.
Denkpause im Kreis der führenden Roller. Stille. Minutenlang. Endlich da und dort vorsichtiges Nicken. Nicht sehr hautfreundlich, aber eine Lösung, murmelte endlich der 1. Kreissekretär. Murmelnde Zustimmung, langsam anschwellend, doch dann lauter, heftiger Widerspruch. Der Kulturgenosse erhob sich dafür sogar, was in den Freitagssitzungen ganz und gar unüblich war. Unsere Zeitungen handlich zerschneiden und dann nach dem Stuhlgang … Ein Blatt vielleicht mit dem Bild unseres Generalsekretärs? Unseres Staatsratsvorsitzenden? Der Veröffentlichung von Beschlüssen unseres Zentralkomitees oder unserer Regierung …? Genossen, das wäre die vulgäre Konterrevolution! So niemals! Weg mit dieser ganz im Sinne des Wortes Scheißidee! Und der Kulturgenosse setzte sich wieder, holte sein Taschentuch hervor, wischte hektisch nasse Stirn und feuchte Lippen.
Nun betretenes Schweigen. Unübliches, intensives Nachdenken. Zwei, drei Minuten. Endlich, ganz, ganz leise, der Hinweis des Genosse Inneres. Man könne sich bei der Auswahl von Zetteln für den Klostrick doch allein auch auf Unpolitisches beschränken, oder? Der Protestierer Kultur schoss erneut in die Höhe, noch einmal nur für kurze, scharfe Sätze: In unserem Staat gibt es nichts Unpolitisches in der Presse! Die Zeitung, politischer Agitator, Propagandist und Organisator. Lenin! Vergessen, Genossen?
Rings um nickende Köpfe. Ausnahmslos. Lauernde Blicke in Richtung Kreisvorsitzender. Der sieht aus, als wolle er pfeifen. Alle im offenen Viereck wissen, was nun kommt. Der Chef setzt zu seinem Lieblingswort an: Das schnurpst so nicht, Genossen!
Zwei Minuten später liegt zur Klopapierfrage der einstimmige Beschluss des Büros der Kreisleitung vor: Entscheidungen von derartig wichtiger, politischer Tragweite müssen auf einer höheren Ebene der führenden Rolle getroffen werden!
Schwierigkeiten, wie Mangel an Klopapier, gehörten in jener Zeit zu den sogenannten Engpässen, mit denen die Bürger wesentlich häufiger als mit Reisepässen Bekanntschaft machen konnten. Auch der über Stadt und Kreis wie eine der Gemeinheiten des Klassenfeindes herabgestürzte Engpass Saatkartoffeln passt in dieses Kapitel. Diesmal hatte der Sekretär für Landwirtschaftliches das Problem auf die Tagesordnung gepflanzt. Das passierte ebenfalls in einem Frühjahr der 1960er Jahre und im gleichen Büro, wieder beim „historischen Rollen der Führung«. Diesmal alarmierte der junge, gerade erst der Bezirksparteischule entkommene Genosse die Büromitglieder hinsichtlich einer den Bürgerinnen und Bürgern womöglich in Perspektive drohenden, ganz und gar unsozialistischen Ernährungskrise. Nämlich, weil: Den Landwirtschaftlichen Genossenschaften im weiten Umkreis fehlten Saatkartoffeln. Und selbst agronomischen Dünnbohrern im Geiste dürfte dämmern, dass es ohne Aussaat keine Ernte geben konnte. Und ohne Kartoffelernte, nur mal als Beispiele, weder Salz‑, noch Pell- noch Bratkartoffeln. Irgendeiner in der Runde murmelte etwas von rohen Klößen und Sonntagen ohne Größe, doch der führende Roller Abteilung Landwirtschaft war mit seiner Philippika noch nicht beim letzten Satz: Also, Genossen, höchste Alarmstufe! Denkt an das Wort eines unserer großen Dichter: Zuerst kommt das Fressen, und dann die Moral nebst anderen wichtigen Sachen! Eine Lösung muss her!
Kurzes Überlegen reichte der Runde. Der Sekretär für MaximusLenimus oder korrekt: Agitation und Propaganda, schlug vor, an den übergeordneten Ersten Sekretär der Bezirksleitung einen Brief zu schicken. Inhalt: Bitte um sozialistische Hilfe aus Regionen, in denen noch genügend Saatkartoffeln vorhanden sind. Vielleicht bei dem Fischköppen in und um Rostock herum. Alle Hände hoch: Beifall einstimmig! Der Landwirtschaftler sollte formulieren. Also hob er zum Mitschreiben für die Protokollgenossin an: Lieber Genosse Erster Sekretär, wir bitten Dich in schwieriger Lage um Hilfe bei der Beschaffung dringend benötigter Saatkar… Weiter kam er nicht! Der Kreisoberste schnitt ihm scharf und ärgerlich das Wort ab. In derartig kläglichemJammerton könne man doch kein Schreiben an den Bezirksersten beginnen. An den Beginn gehörte zuerst einmal Geleistetes! Die kreislichen Errungenschaften, Genossen! Erfolge, klar?! Also, Sekretär Wirtschaft, wie sieht es aus mit Erfolgen. Der Aufgeforderte kramte in seinen Zetteln, nickte dabei fortwährend und zählte dann Zahlen auf. Prozente, sämtlich mehr als Hundert. Der Genosse Wohnungsbau folgte mit übererfüllten Plansummen, der Kulturbereich meldete aus dem letzten Quartal wachsende Besucherzahlen im Theater und sogar im Kino trotz der Woche der sowjetischen Revolutionsfilme und aus HO sowie Konsum konnte von steigenden Umsätzen berichtet werden. Der Text für den beabsichtigten Brief füllte schnell fünf Seiten. Nachdem er dabei eine Weile auf seinem Stuhl hin und her gerutscht war, hob der Landwirtschaftssekretär einen Zeigefinger und wagte den Hinweis auf die fehlenden Saatkartoffeln und die ursächliche, mit dem Brief verbundene Absicht. In das eintretende Schweigen hinein erhob sich der Kreissekretär. Er tat das langsam. Stumm. Gespannt wie zum Sprung. Sein Blick strafte den Einwerfer. Die Stimme blieb leise, sehr leise, doch gerade das machte jedes Wort zum Stachel. So doch nicht, Genossen! Nach einer Liste stolzester kommunaler Siege am Ende die Meldung eines ganz erbärmlichen Versagens in einer banalen Kartoffelsache? Das ist nicht nur peinlich, Genossen, das ist jämmerlich geflenntes Eingeständnis eigener Unfähigkeit! Also, wir beschließen: Der Brief wird, wie er jetzt ist, als Erfolgsbilanz außer der Reihe abgeschickt! Jemand dagegen? Damit ins Protokoll, Berta: Einstimmig!
Nun raffte der im Kreis führende Landwirtschaftsroller seinen Mut zusammen und wagte eine Bemerkung: Und was ist mit den fehlenden Saatkartoffeln? Hier und da Stirnrunzeln. Schließlich ärgerliche Frage des Ersten: Herrgottnochmal – tatsächlich: Herrgott! – irgendwer im Kreis wird doch noch Kartoffeln im Keller haben, oder? Wie ein Jubelruf Antwort vom Wirtschaftssekretär: Im VEB Maschinenbau! Speisekartoffeln der Werkküche! Tonnen! Vorrat für Monate bis zur neuen Ernte! Der Erste streckte, freudig wie der Papst zum urbi et orbi auf dem Balkon, beide Hände in Kopfhöhe: Die Lösung, Genossen! Raus mit den Kartoffeln in die Landwirtschaft! Ab sofort Saatgut! Angeordnet und beschlossen! Und die Betriebsküche im Maschinenbau kocht nun ausnahmsweise mal ein, zwei, drei Monate als Werkessen Makkaroni, Graupen, Reis, Gries, Haferflocken, klar?! Reichlich Braten dazu, Gulasch, Hühnchen – keiner soll Grund zum Meckern haben!
Und so geschah es. Niemand im Maschinenbau maulte wegen des Kartoffelmangels und der beachtlichen Fleischbeilagen. Und es soll sogar bei einigen Werksangehörigen Gewichtszunahmen gegeben haben.
Erstdruck in: Palmbaum – Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 1 / 2010.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Alle Rechte beim Autor.