Katrin Lemke
Eine fiktive Geschichte
Der Bahnhof
Kommt jetzt der Tod, dachte die alte Frau.
Das Gefühl war plötzlich da wie ein Zustand, von dem sie immer gewusst hat, ohne seine Körperlichkeit zu spüren. Sie wunderte sich, dass sie nicht schlimmer erschrak. Ihr Magen wurde unruhig, hob sich einen Moment lang, als wolle er ihr eine große Übelkeit senden. Sie atmete tief, strich über ihn hin und brummte ein bisschen in der Kehle. Das beruhigte sie. Ihr schien, der Tod schmiege sich wie ein dunkles Tier an ihre Seite, das von jetzt ab bleiben würde. Sie versuchte, ihre Hand in sein Fell zu schieben, aber sie griff ins Leere.
Auf einem Bahnhof zu sterben, das würde passen zu dieser kalten Oktobernacht. Ein zitterndes Beiseitetreten. Es würde auch passen zu diesem in Trümmern liegenden, tief gespaltenen Land, das nicht mehr Deutschland genannt werden konnte, weil es ein Gebilde dieses Namens nicht mehr gab. Keines jedenfalls, das verdiente, Heimat genannt zu werden. Der Tod würde auch passen zu ihrem Empfinden, nicht mehr weiterzukönnen auf einem Weg, den sie am liebsten nicht angetreten hätte.
Wirklich, sie hatte eine Grenze überschritten, nicht nur die zwischen den Besatzungszonen. Der Gedanke an den Tod schien ihr folgerichtig. Befreiend, nicht belastend. 83 Lebensjahre sind genug, nach all dem großen Sterben ringsumher.
War nicht auch Tolstoi auf einem Bahnhof gestorben, dachte die Erschöpfte. Auf seiner letzten Flucht?
Auf dem Bahnsteig der Stadt Hannover befand sich an diesem frühen Morgen des 26. Oktober 1947 das Nachtschichtpersonal der britischen Eisenbahnbehörde. Die alte Frau hörte die aufgeregte Stimme ihrer Tochter. „Sie sehen doch, meine Mutter kann nicht mehr. Wir sind die ganze Nacht gefahren, haben seit zwei Tagen fast nicht geschlafen. Bitte, sie muss sich setzen, sich ausruhen können.“ Zögernd, wie gegen ihren Willen, fügte sie noch hinzu: „Es ist die Dichterin Ricarda Huch!“
Die alte Frau wankte vor Müdigkeit. Sie hob, als sie ihren Namen hörte, die Augenlider, sah die Angst und den verhaltenen Ärger im Gesicht der Tochter, spürte ihre Nervosität. Ach, Busi, dachte sie, nun musst du wieder allein mit allem fertig werden. Und nicht einmal Antje ist da.
Busi verschwand in derselben Minute, in der der englische Eisenbahnbeamte die Tür zu der provisorisch gebauten, schwach beleuchteten Wellblechbaracke geöffnet hatte. Im Dunkel des unwirtlichen Bahnhofs war dieser Blechschuppen aufgetaucht wie eine rettende Insel. Ein barackenähnlicher Unterschlupf, für englische Reisende gedacht, rechteckig, mit einer langen Bank an der Wand und einem Ofen, dessen Glut gerade am Erlöschen war. Einen richtigen Wartesaal gab es nicht mehr. Der Bahnbeamte schob der sichtbar erschöpften Frau mit einem höflichen „Please, Madame!“ die einzige bequeme Sitzgelegenheit hin, die es hier gab. Ein Ungetüm von einem Stuhl, fast schon ein Sessel. Einer, der bessere Zeiten gesehen hatte. Woher stammte der überhaupt?
Das also ist eine Dichterin, dachte der Mann, wohl gar eine berühmte? Er hatte ihren Namen noch nie gehört, ihn vielleicht auch nicht richtig verstanden, aber das heißt nichts, er war kein Leser, kannte auch so manchen britischen Dichternamen nicht. Dass aber die alte Dame nicht mehr weiterkonnte, das war zu sehen. Tiefe Augenringe und Furchen im Gesicht. Das graue Haar wirr. Trotzdem war sie elegant gekleidet, wenn auch mit einem Charme, der aus dem vorigen Jahrhundert stammte und schon ein bisschen strapaziert wirkte. Ein hoher Stehkragen, Halsschleife mit Brosche. Zugleich trotzig und vornehm. Die Frau schwankte, als sie sich setzen wollte, griff ins Leere, hielt sich an seinem hingestreckten Arm fest. Sie sagte nichts, aber er spürte den dankbaren Druck ihrer Hand. Er legte Holz nach im Ofen und stellte die Luftklappe ein, so dass es im Inneren zu fauchen und zu knistern begann. Dann ging er wieder hinaus, die Tür ließ er unverschlossen. Vielleicht gab es noch mehr Bedarf? Er nickte den Leuten draußen auf dem Bahnsteig zu. Wirklich, ein kalter Morgen heute, man spürte schon den Winter.
Der Bahnhof von Hannover, schwer zerstört wie die Stadt selbst, hatte auch jetzt, zweieinhalb Jahre nach dem Ende des großen Krieges, nur zwei intakte Gleise. Auf dem einen stand noch immer der Zug, den die beiden, Mutter und Tochter, verlassen hatten, ein britischer Militärtransport. Er würde nach Hamburg weiterfahren. Die Plombierung an den Waggons, in denen die Reisenden aus Berlin gesessen hatten, war aufgebrochen. Die anderen Waggons waren Güterwagen; sie blieben verschlossen. Der Lokführer sprach noch mit der Bahnsteigaufsicht. Die Zugreisenden, zum Umsteigen bereit, standen auf dem kalten Bahnsteig. Zwei Frauen, die fröstelnd auf und ab gegangen waren, verstanden die Geste des Bahnwärters als Einladung, in die Blechbaracke einzutreten. Sie erwiderten sein Nicken, aber er sah es nicht mehr, war schon weitergegangen. Sie betraten den schwach erwärmten Raum.
Unterwegs
Busi, im Morgengrauen unterwegs durch die Stadt, verfluchte diese gefährliche und bedrückende, aber halt auch dringend notwendige Reise. Sie dachte mit Unbehagen daran, dass sie die Mutter gedrängt hatte, sie möge endlich den Weg aus Jena zu ihrer Familie in den Westen finden. Und jetzt, mitten in diesem ungeheuren Wechsel, seit vielen Stunden unterwegs, diese Krise, diese ins Auge springenden Zeichen einer großen Schwäche. Der letzten womöglich? War ihre Angst begründet, es könnte nicht weitergehen? Die Mutter, Mima genannt seit Kindertagen, hatte keine Kraft mehr. Die Tochter hatte gestern im Zug die Schatten im Gesicht der alten Frau, ihren ins Weite davonziehenden Blick gesehen, der ihr unheimlich war. So schaut jemand aus dem Fenster eines fahrenden Zuges, der all die Zerstörungen, die er sieht, genauso erwartet hat und deshalb die Augen gar nicht erst scharf stellt. Es wäre sowieso zwecklos, im Dahinfahren Einzelnes festhalten zu wollen. Abschied nimmt man von allem, vom großen Ganzen. Das zog mit einem gleichmäßigen Rattern an ihnen vorbei, wie ein Film in einem alten Abspielgerät, so lange bis es einen ruckartigen Halt gab, auf freier Strecke oder zwischen Trümmern, manchmal stundenlang. Dann wieder das Rattern und Durchlaufen. Bilder vom alten Reich? Sie glichen denen von damals in nichts mehr, nicht im Bestand der Städte, schon gar nicht in der Stimmung, die über dem Land lag.
Es war eine Zumutung gewesen, die alte Frau aus dem Zuhause in der kleinen Universitätsstadt loszureißen, mit ihr auf diesen Kongress in der zertrümmerten Hauptstadt zu fahren und danach, heimlich natürlich, den Weg über die Sektorengrenze zu wagen. Natürlich wusste Busi das. Deshalb ja ihr schlechtes Gewissen und ihre Ungeduld. Aber auch für sie war das alles eine Zumutung! Sie hatte mehr als zwei Jahre ohne Mann und Sohn gelebt, damit die alte Frau in ihrem geliebten Haus am Oberen Philosophenweg betreut und versorgt wurde. Sollte das so weitergehen? Warum hatte die Mutter so lange gezögert, den Weg einzuschlagen, den beinahe alle Künstler nahmen – und nicht nur sie? Den aus dem Osten in den Westen. War nicht Dr. Mertens, der frühere Bürgermeister von Jena, auch schon weg? Und die meisten der Verlage? Und so gut wie alle Mitglieder ihres geliebten Jour fixe, sofern sie noch lebten? Mima war fast die einzige namhafte Dichterin, die im Osten geblieben war. Zurückgekommen waren einige, aus englischem, amerikanischem, russischem, ja sogar mexikanischem Exil, wie man auf dem Kongress erfahren konnte. Aber wer blieb in der sowjetisch besetzten Zone? Und für wie lange noch?
Die Tochter, Ende vierzig, praktisch veranlagt, unsentimental zupackend, hatte entschieden. Sowohl für die Zukunft als auch für den Moment. Und schließlich war die alte Frau auch einverstanden gewesen.
Busi blieb stehen, ein bisschen außer Atem. Hier musste doch irgendwo die englische Militärbehörde sein, dachte sie. Mit einem Telefon. Es konnte höchstens sein, dass noch niemand anwesend war, so früh am Morgen. Und es war auch noch Sonntag! Gerade sieben Uhr jetzt. Zur Not musste sie warten.
Mima saß jetzt also auf dem Bahnhof von Hannover – dank der Freundlichkeit des Engländers halbwegs warm und geschützt. Schon wegen ihrer schlechten Augen würde sie ganz bestimmt genau da sitzen bleiben, wo sie sie verlassen hatte. Sie, Busi, würde jetzt ihren Mann Franz in Frankfurt anrufen, um ihre Ankunft zu vermelden. Der schwierigste Schritt war geschafft. Sie waren über die Grenze. Gegen Mittag sollte ein Zug in südlicher Richtung gehen, das hatte sie schon auf dem Bahnhof in Erfahrung gebracht. Das letzte Wegstück der Reise. Dann wären sie zu Hause. Zu Hause? Busi schüttelte unwillig den Kopf, als spreche sie mit sich selbst, als höre sie die skeptischen Worte der Mutter: Wir werden es noch lange sehr ungemütlich haben und niemals mehr so hübsch, wie wir es in unsrer alten Baracke in Jena hatten. Nein, denkt die Tochter, ein richtiges Zuhause haben wir auch in Frankfurt noch nicht. Auch hier würde es weiter Provisorien geben, Fremdheit. Trotz Franz‘ Arbeit als Minister und nun an der Universität. Heimat war Frankfurt noch lange nicht. Wie auch? Zumindest aber würde die Familie wieder vereint sein.
[…]
Begegnung
Die alte Frau hatte geschlafen. Wie lange, wusste sie nicht. Sie hatte kein Zeitgefühl mehr, war nur dankbar dafür zu sitzen und den Kopf an das hohe Rückenpolster des Sessels anlehnen zu können. Ihre sehr schmalen blassen Hände, von hohen Adern durchzogen, lagen auf den Knäufen der Armlehnen. Löwenköpfe, dachte die Dahindämmernde erstaunt. Löwenköpfe wie daheim. Aber wo war daheim? Ihre Gedanken verliefen sich in den bewohnten Räumen ihres Lebens. Das Wohnzimmer der Großmutter zu Hause in Braunschweig, der Löwenstadt. Ein Ort vollkommener Sicherheit und Ruhe. Beinahe schwarz eingerichtet. Dunkles Holz. Ein hoher Schrank mit Glastüren, Sprossen darauf, die wie Kreuze aussahen. Ein breiter Schreibtisch. Ein Esstisch, hochlehnige Stühle. Alles schwarz. Auch das Klavier. Auch die Rahmen der Bilder. Sogar die Bilder selbst waren fast schwarz: Radierungen von Landschaften, Musikerporträts. Beethoven, ein Kopf mit einer Löwenmähne. Auch das kleine, runde Schubertporträt zeigte eine wirre Frisur. Lustig. Hatte das kleine Mädchen doch auch Löwenköpfe in den Händen, wenn sie auf dem Schreibtischstuhl saß. Und zwei Löwen hielten, nach rechts und links blickend, die Bücherreihe auf dem Schreibtisch. Ein warmer, dunkler Raum, in dem ihre frühe Kindheit stattgefunden hatte. Das lebendige Reich der Großmutter. Helle Farben hatten keinen Platz darin. Sie fehlten auch nicht.
Aber natürlich liebte sie auch Farben, besonders die von Kirchenfenstern im Licht. Darin, hatte sie immer gefunden, war die schönste Farbe das Blau gewesen, das im Leuchten als das einzige erschien, das den Namen verdiente, das wirkliche Blau. Am stärksten in der Kathedrale zu Chartre.
Wo und wann hatte sie zwischen Farben gelebt? In Zürich? In Italien? Damals in Triest! Mit Manno und Busi. Nicht gerade in der kleinen, stickigen Wohnung, die war eher düster gewesen, aber in der Stadt und am Meer. Am Tag vor der Entbindung hatte sie die Katzenmutter mit ihren Kleinen auf der Mauer gesehen, in allen Katzenfarben, die sich nur mischen konnten: rot, orange, zimtfarben, weiß, grau getigert, glänzendes Schwarz, auch Braun dazwischen. Wie viele Junge eine Katzenmutter versorgen konnte! Sie war stehen geblieben, die Hände am hochgewölbten Bauch. Damals hatte sie sich zum ersten Mal auf ihr Kind freuen können. Busi. Kätzchen. Und Manno war ganz gegen ihre Erwartung nicht enttäuscht gewesen, dass es kein Alessandro oder Enrico war, kein Sohn, sondern eine Tochter.
Die Tür bewegt sich. Die alte Frau schreckt hoch. Jemand tritt ein in die Wellblechbaracke, grüßt höflich. Frauenstimmen. Mühsam aus dem Erinnerungsnebel auftauchend, besinnt sich die Erwachende, dass sie hier, ach ja, in einer Art Warteraum saß. Sie hebt die schweren Lider und sagt mit ihrer tiefen, leicht kratzigen Stimme: „Guten Morgen. Vorsicht, stolpern Sie nicht. Vor dem Ofen, der Kohlenkasten!“ Sie spricht langsam, das R ganz hinten in der Kehle bildend, eher gerieben als gerollt, das S und das T getrennt voneinander, unverkennbar niederdeutsch. Dann schließt sie die Augen wieder.
Die zuerst Eintretende der Frauen stutzt, dreht sich nach der Stimme um, die aus dem Lehnstuhl kommt. Woher kannte sie diesen Klang, diese Sprechweise? Eine kultivierte Frauenstimme, sehr einprägsam. Eine, die sie erst vor kurzem gehört hatte. Sie steht einen Moment still. Ist das etwa Ricarda Huch? Der Kongress der Schriftsteller Anfang Oktober! In Berlin. Da waren sie sich begegnet. Sogar alle drei. „Elisabeth“, sagt die Frau leise und dreht sich zu ihrer Begleiterin um. „Ich glaube, Ricarda Huch ist hier.“ Verblüffung in ihrer Stimme. Waren sie etwa im selben Zug gefahren, ohne es zu wissen?
„Frau Huch?“ fragt sie leise, sich der Sitzenden zuwendend. Sie tritt ganz in den Raum ein, beugt sich über die Zusammengesunkene, spürt, wie benommen sie ist, fast verwirrt. Sie legt ihr die Hand auf den Arm, spricht mit leiser Stimme. „Erinnern Sie sich? Anna S. Wir sahen uns auf dem Berliner Kongress. Alfred Döblin hat uns bekanntgemacht. Und hier ist auch Frau L., Elisabeth L. Sind Sie allein hier, Frau Huch?“
„Nein, nein.“ Fast unhörbar, diese Antwort. Die alte Frau schüttelt den Kopf. „Meine Tochter. Sie ist nach den Reisepapieren unterwegs. Und nach einem Telefon. Kommt sicher bald zurück. Ja, Frau Anna, ich erinnere mich.“ Die alte Frau berührt den Arm der jüngeren. Eine freundliche, aber wie bedauernd wirkende Geste, so als wolle sie sagen: Schade, nun ist es zum Kennenlernen zu spät.
Auch Elisabeth L. ist herangekommen und beugt sich zu der Sitzenden. Die hebt nochmals die Hand auf, lässt sie jedoch wieder sinken, als wäre sie jetzt zentnerschwer. „Ach, Frau Elisabeth“ sagt sie schwach, „Ihre schöne Rede auf dem Kongress …“. Der Satz bleibt unbeendet.
Anna S. schüttelt den Kopf. Der Zufall ist allzu groß.
[…]
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