Volker Müller
Ein Mann sitzt am Fenster und starrt auf den See. Dahinter … muss es eine Straße geben. Aber wie dahin kommen? Und was dann?
Der Geschichtslehrer Ralf Schmidt hatte bis zu seinem achtundvierzigsten Jahr ein hinlänglich geordnetes Leben geführt. Seine Frau war eine in Beekenstädt und auch ein ganzes Stück darüber hinaus geschätzte Kunstmalerin und die Tochter ging aufs Gymnasium. Sie lebten zu dritt in einer großen, über die Jahre hin liebevoll eingerichteten Altbauwohnung. An dem Tag, von dem an alles anders wurde, kam Schmidt wie gewöhnlich gegen vierzehn Uhr nach Hause, ging kurz zu seiner Frau ins Atelier und fing dann an, eine Klassenarbeit zu korrigieren. Als die Tochter eintraf, tranken sie zusammen Kaffee. Danach widmete sich jeder wieder seiner Arbeit. Abends besuchte seine Frau eine Buchlesung. Er blieb mit der Tochter zu Hause und sie hörten noch etwas Musik.
In der Nacht träumte Schmidt, dass er mit dem Auto über Land fuhr. Er, der keinen Führerschein hatte, wunderte sich noch, wie das eigentlich möglich war. Aber er fuhr und fuhr, zügig und sicher, bog dann irgendwann in eine schmucke Eigenheimsiedlung ein und hielt vor einem Flachbau mit braun getönten Scheiben. Er stieg aus, das musste er ja wohl, da kam auch schon eine sportliche Blondine auf ihn zu und umarmte ihn. Sie gingen hinein, kamen in ein großes Wohnzimmer, wo ein drahtiger Mann in seinen Jahren stand, der ihn gleichfalls in die Arme schloss. Schmidt wunderte sich zunächst darüber, beruhigte sich dann aber wieder, sich sicher wähnend, dass er das alles ja nur träumte.
Was ihn allerdings staunen machte, waren die Gespräche, die er mit den beiden führte. Er gab erstaunlich detailreich Auskunft über Sachen, von denen er an sich nicht die geringste Ahnung haben konnte. Aber seine Lippen bewegten sich wie von selbst und er hatte auch, wie war das nur möglich, eine genaue Vorstellung von dem, was er sagte. So fragte ihn der Mann, der – wie Schmidt schnell mitbekommen hatte – Paul hieß, ob es irgendwelche neue Ermittlungsergebnisse im Fall Franziska Kuhn gebe. Zu seinem nicht gelinden Erstaunen hörte sich Schmidt sagen: »Nein, es hat sich nicht allzu viel getan in der Sache. Das Alibi des Freundes ist, was ja vorauszusehen war, geplatzt. Aber der Bursche leugnet hartnäckig. Na ja und auf welche Weise das Mädchen zu Tode gekommen ist, ist keinesfalls zweifelsfrei geklärt. Wenn sich da nicht bald was Klipp und Klares ergibt, werden wir ihn wohl erst mal wieder laufen lassen müssen …« Dann war er mit der jungen Frau, die jener Paul mit »Corinna« angesprochen hatte, allein und sie gingen dann auch zu Bett. Was soll das werden, dachte Schmidt. Zum Glück sagte die Frau: »Schlaf, schön Ralf, ich muss morgen früh raus …«
Als Schmidt am nächsten Tag mit seiner Frau beim Frühstück saß, wollte er ihr von dem Traum erzählen, da bekam sie einen Anruf. Er konnte sich dann nur noch kurz von ihr verabschieden. Er dachte den ganzen Tag an das große Bett, in dem er, im Traum natürlich nur, mit der jungen Frau gelegen hatte. Sie war äußerst anziehend gewesen. So kräftig wie ihr blondes, von einigen hellbraunen Strähnen durchzogenes Haar war auch ihre Gestalt. Wenn die richtig zupackte, dachte Schmidt. Aber das wird und bringt ja nichts …
Zwei oder drei Tage später träumte Schmidt wieder, dass er mit dem Auto fuhr. Und die Fahrt ging wieder in die Eigenheimsiedlung weit draußen und wieder stieg er vor dem Flachbau mit den dezent getönten Scheiben aus. Wieder gab es die Begrüßungen und wieder wurde dieser und jener Kriminalfall erörtert. Als Paul, bei dem es sich offenbar um den Vater der jungen Frau handelte, beiden eine Gute Nacht gewünscht hatte, sagte Corinna: »Ralf, es gibt eine Neuigkeit, ich wollte es dir zuerst sagen, was denkst du, ja, wir erwarten ein Kind …«
Was dann geschah, geschah still und leise, als lägen sie auf trockenem Laub, und war so unglaublich und ungeheuerlich, dass Schmidt, als er erwachte, eine Zeit brauchte, um zu wissen, wo und wer er war und wie sich alles tatsächlich verhielt. Er dachte den Tag über an nichts anderes als an den Flachbau mit den braunen Scheiben. In der folgenden Nacht wollte sich der Traum nicht einstellen. Es dauerte eine gute Woche, bevor es wieder einmal soweit war. Als Schmidt in der Siedlung aus der Limousine stieg, erwartete er Fragen oder Vorwürfe. Doch Corinna wollte überhaupt nicht wissen, wo er die ganze Zeit gewesen war. Sie umarmte ihn ungestüm, dann gab es grüne Nudeln mit scharf gewürztem Hackfleisch, man besprach die Einrichtung des Kinderzimmers und danach geschah wieder, wovon Schmidt die ganze Zeit über geträumt hatte.
Es dauerte nicht lange, da stellte sich der Traum beinahe täglich ein. Gut, dass die Ferien begannen. Schmidt hatte zuletzt erhebliche Schwierigkeiten, jeden Tag die fünf, sechs Unterrichtsstunden unbeschadet über die Bühne zu bringen. Und es war auch gut, dass Frau und Tochter bald verreisten.
Als die Frau von ihrer zweiwöchigen Studienreise durch die Schwäbische Alb zurückkehrte, die Tochter war noch mit einer Reisegruppe in Bessarabien unterwegs, stellte sie fest, dass ihr Mann seit Tagen das Bett nicht verlassen hatte. Er redete wirres Zeug, behauptete, dass er bei der Kripo als Hauptkommissar arbeite und dass er nach Feierabend keine Zeit mehr habe, weil er ja bald Vater würde und es im Kinderzimmer noch allerhand zu tun gebe. Ach, ja, und dann fragte er sie, wer sie eigentlich sei und was sie hier zu suchen habe. Elisabeth Schmidt ging in ihr Atelier, weinte, fand die Sorge, die sie schon seit geraumer Zeit erfüllt hatte, in vollem Umfange bestätigt und suchte noch am gleichen Tag eine Behörde auf, von der sie annahm, dass sie die nötigen Schritte einleiten würde.
In der Anstalt fasste Ralf Schmidt schließlich zu einem jungen Arzt Vertrauen und erzählte ihm alles. Daraufhin kam das zuständige Konsilium zu dem Schluss, angesichts der geschwächten Konstitution des Patienten nicht unbedingt zum an sich bewährten Mittel des Dauerschlafentzugs zu greifen. Man spritzte ihm stattdessen ein Anti-Traum-Pharmakon. Danach erholte er sich in der Tat so weit, dass er aufstehen und sich in der Abteilung frei bewegen konnte. Wie alles weitergehen würde, ob er eines Tages wieder zu seiner Familie zurückkehren, vielleicht seinen Beruf — und sei es stundenweise — wieder ausüben könne, war nach Aussage des zuständigen Oberarztes allerdings ungewiss. In letzter Zeit gab es Anzeichen dafür, dass das Pharmakon an Wirkung verlor. Daraufhin wurde die Dosis erhöht. »Wir müssen das Zwei-Welten-Trauma aus der Welt schaffen«, sagte der Oberarzt zur Erklärung. Gelänge das nicht, die Chancen stünden bei dieser bislang noch wenig erforschten Erkrankung vermutlich fifty-fifty, wäre notfalls eine vorübergehende extensiv-pressale Ruhigstellung in Erwägung zu ziehen. Sonst könne man für nichts garantieren.
Woche für Woche kommen zwei Frauen zu Besuch, die eine großgewachsen und Ende vierzig, die andere deutlich kleiner und zarter und so um die zwanzig. Schmidt kennt sie nicht. Doch er dankt für das Interesse und unterhält sich eine Weile mit ihnen. Dann setzt er sich wieder ans Fenster und starrt auf den See.
aus: Kormorane. Erzählungen, UND-Verlag, Stadtroda 2012.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages und des Autors.
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