M.Kruppe
Renate war in diesem Kaff jedem ein Begriff,
denn hier fallen die Menschen besonders auf,
die nicht konform sind.
Jeder kannte die Trinker und Verrückten mit Namen.
Und jeder kannte ihre Geschichten.
Und über jeden dieser Trinker und Verrückten
kursierten mindestens vier verschiedene Geschichten
und ich bin mir nicht sicher,
ob ich hier die richtige Geschichte
über jene Frau erzähle,
die alle nur „die olle Renate“ nannten.
Renate saß immer in der Fußgängerzone,
umgeben von kleinen Schnaps-
und großen Kadarkaflaschen
und bildete einen schrägen Kontrast
zu diesem bis ins kleinste Detail
durchsanierten Straßenzug
der Altstadt.
Eine der Geschichten über sie besagt,
dass sie einst Lehrerin war.
Als glühende Kommunistin
schloss sie ihr Studium in den 60ern
mit Auszeichnung ab,
geriet aber,
nicht lange, nachdem sie an einer Schule zu arbeiten begann,
unter die Räder des DDR Systems.
Einmal ein falscher Satz,
eine Kritik am Staat,
an der Regierung
und man nahm sie in die Mangel.
Das machte sie nur noch trotziger.
Ihr Rebellentum wurde von denen gefüttert,
die es aushungern wollten.
Es dauerte nicht lange
und sie landete in Stasihaft
und als sie rauskam,
durfte sie nicht mehr als Lehrerin arbeiten.
Die einst stolze Frau
kehrte gebrochen in die Kleinstadt zurück
und hielt sich mit freizügigen Diensten über Wasser.
Offiziell war Prostitution in der DDR verboten,
aber die Oberen duldeten sie,
weil sie davon selbst profitierten.
Aus der Lehrerin wurde „die feuchte Renate“.
Die Pein des Erlebten
betäubte sie
mit der falschen Anerkennung ihrer Freier
und mit Wein und Zigaretten.
Alter und Alk setzten ihrem Körper zu.
Und irgendwann blieben die meisten Freier weg.
Der Geist war längst schon ein Krüppel,
ein Rest von dem, was sie einst war,
was in der Stasizelle zurückgeblieben war.
Die Wende kam,
das System änderte sich und mit ihm Renates Spitzname.
Aus der „feuchten Renate“ wurde die „verrückte Renate“.
Jeden Tag saß sie nun in der Innenstadt,
trank und sang,
unterhielt nicht selten die Passanten
mit wirren Sprüchen.
Und wenn sie ihre Rente versoffen hatte,
meist gegen Monatsmitte,
bot sie sich jedem an,
der an ihr vorbei lief
und nach Mann aussah
und sorgte für peinliche Momente.
Mir lief sie mal hinterher,
bettelte, dass ich ihr eine Flasche Wein ausgebe.
Ich war höchstens 17, 18 Jahre alt
und schämte mich dafür,
denn die Fußgängerzone war voller Menschen.
Und selbst wenn ich gewollt hätte,
ich hatte kein Geld dafür.
Die paar Kröten, die ich in den Taschen hatte,
brauchte ich für den eigenen Suff am Abend.
Also verneinte ich freundlich aber vehement,
woraufhin sie laut sagte,
dass ich alles mit ihr machen könne.
„Ich hab wirklich keine Kohle.“,
sagte ich und beschleunigte hochroten Kopfes meinen Schritt.
Sie aber lief mir nach,
stellte sich vor mich
und riss ihr schmuddeliges T‑Shirt
mit der riesigen Rolling-Stones-Zunge hoch.
Zwei Brüste, die wie zwei Lappen
bis kurz über den Bauchnabel hingen,
kamen zum Vorschein,
während sie sagte:
„Komm schon, ich hab noch einen schönen Körper.“
„Jetzt ist aber Schluss, Renate.“,
sagte ich,
ebenfalls für alle hörbar
und lief fluchtartig davon.
Ich schämte mich wie ein Bettnässer,
nicht nur wegen dieser Szene,
sondern auch,
weil ich ihr nicht wenigstens eine Mark zusteckte
und nur an meinen eigenen Suff dachte.
Irgendwann schaffte sie es nicht mehr bis in die Stadt.
Der Supermarkt in der Nähe des Obdachlosenheimes,
in dem sie lebte
und der das „Übergangswohnheim“ genannt wurde,
war nun ihr bevorzugtes Refugium.
Auch ich wohnte dort in der Nähe.
Von früh bis spät stand sie im Eingangsbereich,
trank ihren Rotwein aus dem Tetra Pak
und gönnte sich zwischendurch
von dem geschnorrten Geld einen Kaffee beim Bäcker.
Ich habe mehrfach versucht,
mit ihr zu sprechen,
um ihre wirkliche Geschichte zu erfahren,
aber da war kein Gespräch möglich.
Sie redete nur von Freiern,
von all den Männern,
die sie geliebt habe,
und von denen sie wiedergeliebt wurde.
Zu ihrer Vergangenheit konnte
oder wollte sie nichts erzählen.
Heute Morgen wollte ich mir ein paar Brötchen holen,
in diesem Supermarkt,
vor dem sie immer stand.
Schon von weitem sah ich das Blaulicht
und dachte zunächst an einen Diebstahl.
Als ich näherkam,
sah ich sie dort liegen.
Ihr faltiges Gesicht war schon blau,
ihre weit aufgerissenen Augen starrten
– fast sehnsüchtig -
in den wolkenlosen Frühlingshimmel.
Sie hatte ihre Klamotten ausgezogen
und fein säuberlich gefaltet
neben sich gelegt.
Ihr ausgemergelter Körper
war voller blauer Flecken.
Zwei Polizisten legten eine Decke über sie
und als ich den Bäcker mit meinen Brötchen verließ,
hob man sie gerade auf eine Bahre.
Zu Hause legte ich die Brötchen auf den Tisch,
aß nichts,
holte mir stattdessen ein Bier aus dem Kühlschrank,
trank eins auf Renate
und dankte dem Himmel dafür,
bislang verdammt viel Glück gehabt zu haben.
aus: Geschichten vom Kaff der guten Hoffnung, Edition Outbird, Gera 2020.
Alle Rechte beim Verlag Edition Outbird.
Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages und des Autors.
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