Reinhard Böhner
Weiß der Teufel, wieso ich auf dieses Pauschalangebot reingefallen war. „Fit in fünf Tagen.“ „Heilung durch heiße Quellen.“ „Frühlingsgrünen in Bad Knochenbach.“ Im Reisebüro hatten sie nichts von dem Schwefelgestank und den schwitzenden, rotgesichtigen Leibern gesagt, die jetzt neben mir in diesem Wasserloch saßen. Thermalbad. fünfzehn Becken. fünfzehnmal heißes Wasser.
Der Herr neben mir pfiff bei jedem Atemzug.
„Insel des Wohlbefindens“ hatte die Rothaarige vom Reisebüro Bad Knochenbach genannt. Die hatte gut reden, Anfang 20, Modellkörper, Vegetarierin. Ich beschloss Bewegungsbecken eins zu versuchen. 35 Grad. Mich fröstelte. Das Schwefelbecken hatte 37. Wie hart einen zwei Grädchen doch treffen können. Aber hier durfte man wenigstens schwimmen, was man bei zehn mal zehn Metern eben schwimmen nennen kann. Eine elfenbeinfarbene ältere Dame mit goldener Badekappe steuerte mir in den Weg. Ich zog eine gerade Bahn. Sie schwamm einfach von der Seite hinein. Ich hätte unter ihr hindurchtauchen können oder ausweichen. Auch ich schwamm geradewegs weiter. Sie wich nicht, sah mit tuscheumränderten Augen durch mich hindurch und stieß die Luft zwischen stilettspitzen Lippen aus. Noch einen Meter… Wie eine Sportjacht, die sich geschlagen gibt, drehte ich bei. Wahrscheinlich hätte ich mit einem heftigen Flossenschlag ihre Wirbelsäule zertrümmert. „Vierzigjähriger Pauschalreisender ersäuft Privatkurgast im Bewegungsbecken.“ Das wollte ich auch nicht. Prüsterchen und Hüsterchen, sie schniefte sich zum Beckenrand hinüber. Ich bereitete mich auf die Mund-zu-Mund Beatmung vor, aber sie ergriff den Haltestab, stützte sich mit der anderen Hand auf den Beckenrand, nahm Schwung und stemmte sich hoch. Im selben Moment saß sie auf den Fliesen, baumelte ihre Beine im Wasser. Muskulöse Arme, straffe Oberschenkel, kerzengerader Körper. Ich war froh, dass ich ihr ausgewichen war. „Rüstige Rentnerin zerschmettert rücksichtslosen Schalterbeamten.“ Solange also jemand unter Wasser war, durfte man ihm nicht trauen. Er verbarg etwas, wie der lächelnde Herr im Nachbarbecken, dessen schmales Haar blass und stumpf herabfiel und der jetzt eine Dreizentnerwampe aus dem Wasser hievte. Ich reckte den Kopf, um zu sehen, wie weit der Wasserspiegel im Nachbarbecken absinke.
Die Uhr über dem Glaskasten des Bademeisters tickte. Caramba! 11 Uhr, ich musste zur Fangobehandlung. Pauschalkur, inklusive fünf Fangopackungen und fünf Bewegungsbäder. Die nette Dame an der Kasse des Badehauses hatte mir 20 € Pfand abgenommen: „Lassen Sie ihre Anwendungen quittieren, dann bekommen Sie Ihr Geld zurück.“ Gesundheit gegen Beleg, und was waren überhaupt Anwendungen. Gewaltanwendungen? Nie in meinem Leben hatte ich je eine Fangopackung bekommen.
Meine Knie wackelten etwas, als ich aus dem Bewegungsbecken hinaus- und in den Duschraum hineinschlüpfte. Abtrocknen, Turnhose, Bademantel über, dann durch die Sperre in die Vorhalle des Badehauses, zwischen den Gummibäumen entlang und dem Regal mit den Reklamebroschüren, ich las im Vorbeigehen: Bio-Facelifting 555, ein Schönheitstag mit Sigrid 110 €, Studio Iris saniert ihren Darm für 79 €, Sonderangebot: das „Grüne Gold der Azteken“ nur 49 €. Ich rannte die Treppe zum zweiten Stock hinauf. Großes Schild: Fango. Ich nahm in dem weißtapezierten Vorraum auf einem Metallstuhl Platz. Wieder eine Uhr. 11:15 Uhr. Ich war der einzige. Wie mir geheißen, war ich eine Viertelstunde vor der Anwendung da und wartete auf die Masseuse vom Titelblatt des Kurprospektes, die der Rothaarigen vom Reisebüro verdammt ähnlich sah.
Neben einer schmalen Tür stand eine Art abgesägter Müllkübel. Dahinein war in Kies eine Palme gepflanzt. Ich stand auf und rieb ein Blatt – echt. Das beruhigte mich. Jedenfalls betrogen sie nicht mit falschem Grün. Fünf vor halb Zwölf wurde ich unruhig. Hatten sie mich vergessen? Oder saß ich in der falschen Etage? Ein paar Leute in Bademänteln kamen durch den Vorraum und verschwanden in der schmalen Tür neben der Grünpflanze. Eine Minute später steckte eine voluminöse Frau in einer Wickelschürze ihren Kopf aus der schmalen Tür: „Fango?“ Ich sah mich um, sie musste mich meinen. Bevor ich nicken oder antworten konnte, schob sie mit noch schrillerer Stimme nach: „Woll´n ´se Fango?“ „Ja, ja, 11:30 Uhr.“ „Na, warum melden ´se sich denn nich?“ Ich setzte an, wollte erklären: „Die Dame von der Kurtheke…“ aber die wuchtige Frau beruhigte mich schon: „´Se sin´wohl ´s erste Mal hier?“ Ich reichte ihr meinen Behandlungsplan. Sie legte ihn auf ein Stehpult und haute einen Stempel drauf.
„Naja, ´se komm´ ja bloß fünfmal.“ Das klang abfällig, wie Fangotourist, Kur von der Stange, Spartarif.
„Geh´n ´se mal in Kabine 7. Zieh´n ´se sich aus und legen ´se sich auf die Pritsche.“ Ich ging in Kabine 7.
„Zieh´n ´se auch die Schlüpfer aus.“ rief mir die Frau noch nach. Ich wollte antworten, dass ich keine Schlüpfer sondern Turnhosen trage, aber die Tür war schon zu.
Splitternackt saß ich auf dem Rand der Liege. Der Raum maß zwei mal zwei Meter, vollständig gefliest. Schlammspritzer bis an die Decke. Mein Gott, was machten die hier mit einem.
Draußen klapperten Eimer, jemand fuhr einen Karren über den Gang. Dann unterhielt sich die Fangofrau mit meiner Kabinennachbarin: „Ich hatte auch mal so´n Zieh´n im Unterleib, das kenn´ ich.“
„Bei mir sitzt das aber höher, mehr so hier.“ beharrte die Frauenstimme.
„´Se werden sehen, Fango bringt´s weg, Fango is´ für alles gut.“
Dann flog die Tür meiner Kabine auf, ein Metallkarren wurde hereingeschoben. Hätte ich nicht auf der Liege gesessen, wäre ich unter die Räder gekommen. Der Karren glich denen in unserer örtlichen Schlachterei, war aber nicht mit Innereien oder abgeschlagenen Hufen gefüllt, sondern mit einer graubraunen Peppermumpe.
„Hinsetzen, Beine hoch.“ rief die Fangofrau von der Tür. Ihre linke Hand steckte in einem riesigen schwarzen Gummihandschuh. „Wo krieg´n ´se ´s denn hin?“
„Rücken.“ wisperte ich. Mit dem Handschuh baggerte sie hinter mir Fango auf´s Betttuch. Der Rand der Masse rutschte breit und berührte in einer feinen Linie meine Lenden. Es brannte fürchterlich. Ich dachte an Rinder, denen man das Siegel aufbrannte. Roch es nicht schon verbrannt? Es war völlig unmöglich, dass ich mich in diese Lava legte. Fatsch, eine Ladung Schlamm landete zwischen meinen Schulterblättern.
„Ich reib´ ihnen auch noch die Schultern ein, das tut gut.“
Ich wand mich, kam aber nicht weg, denn die Frau presste mit der anderen Hand gegen mein Brustbein. „Hinlegen.“ Sie drückte mich in den heißen gemahlenen Granit. So sollte mein Schicksal also enden, aufgekocht in zähem Modder.
Zu meiner Überraschung war die Hitze auszuhalten. Der Schlamm passte sich meinem Körper an.
Da lag ich, nackt ausgestreckt, starrte an die Decke und verkniff mir das Jammern. Ich war nun doch froh, dass nicht die Rothaarige vom Reisebüro mit der Claudia-Schiffer-Figur und dem Zarah-Leander-Timbre, sondern eine korpulente, lebensgeprüfte Mittfünfzigerin in weißer Schürze mir die Tücher über Brust, Scham und Beine zog und sie unter mir feststopfte. Obenauf legte sie eine Kamelhaardecke, übersät mit Spritzern und Flecken. Ziemlich unappetitlich, sie musste mehrere Fangogenerationen hinter sich haben. Ich hob den Kopf und begutachtete die Spuren der Vergangenheit. Schlamm, Kleber, Farbe, manche Flecken sahen aus wie eingetrockneter Speichel. Blut war nicht dabei.
Es roch muffig, nach Erde und modrigem Wald. Aber gleich würden die heilenden Kräfte in meinen Körper kriechen, sich zwischen Wirbeln und Bandscheiben festsetzen, meine Muskelfasern massieren und die Sehnen entspannen.
Aber es kroch nix. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich, sagte Heilformeln auf, die ich aus alten Büchern kannte, aber es kroch nix. Später dachte ich an warmen Ostseesand, träumte von einem Moosbett, auf dem ich mit Feen und der Rothaarigen saß, und versuchte zu schlafen. Als auch dann nix passierte, begann ich die Karos an der Decke zu zählen, lauschte den Schritten und Rufen auf dem Gang, bis es still wurde.
Der Schlamm war jetzt fest geworden. Durch meine Bewegungen entstanden kleine Hohlräume, in die von irgendwoher kalte Luft zog. Meine Muskeln verkrampften. Ich schwitzte, schwitzen sollte man ja, aber von der Hitze und nicht von den Verkrampfungen. Wenig später ratterte die Karre wieder über den Gang. Die Kabinentüren flogen der Reihe nach auf. Dann war ich dran.
„´Se könn´ jetzt aufsteh´n und dusch´n.“ Die Fangofrau zog die Kamelhaut weg und öffnete die Betttücher. Dann drückte sie ein Brett, jedenfalls das, was ich bisher für ein Brett gehalten hatte, in die Wand hinein und es erschien eine Dusche. Das Brett war oben an einer Schiene befestigt und verschloss jetzt die Dusche zur Nachbarkabine hin. Ich spritzte mich ab. „Ge´m ´se ´mal her.“ Die Fangofrau nahm mir die Dusche aus der Hand. Sprühte einmal über meinen Rücken und drehte das Wasser ab. An meinen Schultern und Ellenbogen klebten noch Schlammfetzen, aber sie entschied: „´Se brauchen jetzt Nachruhe.“
Auch das noch, die Anwendung war also noch nicht vorbei. Die Frau packte mich in frisches Bettzeug.
„Wenn ´s klingelt könn´ ´se geh´n.“ Sie zog einen Kurzzeitwecker auf und verschwand. Tick, tick, tick, die Sekunden hämmerten. Sollte ich flüchten? Aber wahrscheinlich würde die Fangofrau am Ende des Korridors wachen und jeden Deserteur erschlagen.
Später schleppte ich mich auf mein Zimmer und fiel ins Bett. Und das sollte gesund sein! Ich kam nicht zur Ruhe, wirre Gedanken zerrten an meinen Nervensträngen. Fährt der Bundeskanzler nun diese oder nächste Woche nach New York? Oder war er etwa schon da? An meinem Schreibtisch im Postamt war wieder der Griff locker geworden. Wann musste ich eigentlich morgen aufstehen, um lange genug im Schwefel zu sitzen? Der Regen trommelte ans Fenster, ich hatte Hunger.
„Es ist 16 Uhr!“ Die Kellnerin vom „Raupennest“ riss die Augen auf, als fielen Ostern und Pfingsten gerade auf einen Tag. „Natürlich gibt es um diese Zeit nichts zu essen.“ Sie schickte mich ins Café Edeltraud. Ein Stück Mohnkuchen 3,50 €. Ich beschloss, dass ich nichts Süßes wollte.
Mit dem Schirm in der Hand hetzte ich durch Bad Knochenbach. Kurpromenade rauf, Kurpromenade runter, vorbei an Juwelieren, Modeboutiquen, Kristalläden, Geschenkartikeln. Totenstille, nur der Regen klatschte aufs Pflaster. Kinder und Autos waren in Bad Knochenbach verboten. Irgendwie wurde es doch 18 Uhr und ich stürmte in die „Bauernschänke“, bestellte Schweinebraten, weil die Wirtin sagte, Schweinebraten ginge am schnellsten, zwei Extraklöße, viel Sauerkraut, Salat wegen der Vitamine und Dessert und Eis und Kaffee. Um sieben war mir speiübel. Die Fangopackung musste zu heiß gewesen sein. Die Tage in Bad Knochenbach vergingen ziemlich schnell. Schwefel, Fango, Bewegungsbäder, und im Wechsel Schweinebraten, Eisbein und Schlachtschüssel. Am letzten Tag war ich aufgeweicht, hatte gallertartige Knochen, ein teigiges Gesicht und den Geruch von geriebenem Granit unter den Nägeln und in den Haarwurzeln. Am letzten Morgen kam ich mit dem Ehepaar an meinem Frühstückstisch ins Gespräch. Beide Mitte Siebzig, goldbehangen, sie auftoupiertes, rotbraunes Haar, er gecremt. Sie sprach laut: „Nicht wahr Schatz, wir kommen zweimal im Jahr hierher.“
„Ja, seit zwölf Jahren.“ nickte der Mann, wickelte vier Scheiben Brot, zwei Äpfel und eine handvoll Marmeladennäpfchen in eine Serviette und steckte das Päckchen in die Handtasche seiner Frau.
„Damals war mein rechter Daumen gelähmt, Arbeitsunfall. Aber das Wasser, die Minerale und vor allem Fango. Nach drei Wochen war alles gut.“ Er beugte sich zu mir rüber. „Hier benutzen sie Naturfango, nicht das paraffinversetzte wie in der Stadt.“ Dann hielt er seine knorrige Hand unter meine Nase und schnipste den Daumen nach allen Seiten. Ich probierte unterm Tisch meine Finger durch, beweglicher waren sie auch nicht.
Die Frau schilderte noch ihre Rheumaschmerzen, Schuppenflechte, Harndrang, Kurzsichtigkeit und, und, und. Alles weggeblasen vom Fango. Nach einer Weile sah sie auf ihre Uhr, sprang hoch und schlug die Hände zusammen: „Mein Gott, ich hab´ doch um neun Fango.“ Sie wühlte in ihrer Handtasche, fand den Behandlungspass, wedelte damit in der Luft und stürzte aus dem Raum. Der Mann wollte mir noch einmal seinen Daumen zeigen, aber ich sagte, ich müsste los, dann packte ich meinen Koffer, schleppte ihn in die Tiefgarage und kam nach vier Stunden Autofahrt erschöpft zu Hause an.
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