Wulf Kirsten
kahl die baumzeile, die im fluß
sich spiegelt flächig-filigran,
häuser an den waldhang gewürfelt,
festgezurrt in sich verkrallt
abbild des dorfes, die kalkwände
schroff und leuchtend weiß,
fallend wie steigend, hart
an der kante herrisch-beherrschend
thront einsam ein haus, Schultze-
Naumburg läßt grüßen jedweden fahrgast,
der nichtsahnend vorübergewinkt wird,
neben der Saale her über die brücken
gerasselt, daß es scheppert und klirrt,
breitwanniger stauraum belassen
für überfließendes flußwasser landein,
verstrauchte wiesen, erdfarbne streifen
eingezogen, eingezwängt gärten,
umzäunung zerbrochen, an Bad Kösen
vorbeigedonnert, wo Friedrich Nietzsche
ein bier trank oder war es eins über
den durst? schandbar, nein, schändlicher
noch, wenn der portaner das glas
am henkel schon faßte und seinen inhalt
austrank zu allem übel, welch ein genuß,
den staub in der kehle schluckweis
zu löschen, o tempora, o mores,
jeder bahnhof, der vorbeifliegt, ist
längst abgeschrieben, triste
angelegenheiten langhin verzettelt,
eine ruinöser als die andre,
scherbenhaufen hinterlassen, schutt
zur schau gestellt, trümmerbrocken
außer kraft und ohne sinngehalt,
noblesse oblige, zweckgebunden war einmal,
aber wohlbestellt im wintergrün
immer noch die felder, mistelbälle
schmarotzen im sperrigen geäst,
hie ein dornstrauch, da
ein dampfender misthaufen quer
in die landschaft gekippt, der
nichts beweisen will
als florierenden ackerbau
und was viehzucht hinterläßt,
globalité-égalité, nur die kirchen
tanzen noch aus der reihe
mit ihren altmodischen türmen,
ein jeder anders gereckt,
teils gezwirbelt, teil gezwiebelt,
als wollten sie die seligkeit preisen
hocherhobnen fingers nach eigner fasson.
Lesung zu den Thüringer Literatur- und Autorentagen 2010 auf Burg Ranis
Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Alle Rechte beim Autor.