Verena Zeltner
Der Morgen fühlte sich für mich wie ein Alptraum an, und von da an jagte sozusagen eine Katastrophe die andere. Echt jetzt, selbst wenn ich mal neunzig werden sollte – was an diesem und an dem nächsten Tagen so abging, werde ich bestimmt bis an mein Lebensende nicht vergessen. Außer, ich krieg mal Alzheimer.
Ich hatte ungefähr ›ne halbe Stunde. Panik half jetzt gar nicht. Ich redete mir gut zu: immer eins nach dem anderen.
Zuallererst kurz unter die Dusche, zum Abschluss ordentlich kaltes Wasser. Na, danach war ich endgültig wach.
Ab in die Küche, Frühstück machen, Geburtstagstisch decken mit den Blumen, dem Törtchen, den Glitzerspangen und dem Zirkusbuch. Nun noch das Kleid.
Ich flitzte ins Elternschlafzimmer und riss die rechte Tür des Kleiderschrankes auf. Im obersten Fach, das hatte ich längst ausspioniert, wurden immer die Geschenke deponiert. Und obwohl ich meine Augen weit aufriss, sah ich dort nur den Geburtstagskranz mit den Kerzen und neue Ritter-Rost-CD, aber nicht die Spur eines rosa Kleides. Dafür gab es eigentlich nur eine Erklärung: Mama musste Kessys Geburtstag glatt vergessen haben.
Quatsch, Ben, das gibt’s nicht, sagte ich mir. Und doch: Es konnte gar nicht anders sein. Sonst wäre sie jetzt da, mitsamt dem verdammten Kleid.
Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn meine Mutter jetzt zur Tür hereingekommen wäre. Doch sie kam nicht – und wahrscheinlich war das besser so.
Ich musste unbedingt einen klaren Kopf behalten. Zum Teufel noch mal, was sollte ich meiner kleinen Schwester erzählen? Wie sollte ich ihr erklären, dass Mama nicht da war und auch nicht das Kleid, das sie sich so sehr gewünscht hatte?
Mann, Mann, Mann! Und jetzt hatte ich vor lauter Hektik völlig vergessen, Napoleon zu füttern. Wo steckte er überhaupt? Sonst überfiel er einen morgens fast und gab lautstark zu verstehen, dass er am Verhungern war. Merkwürdig. Ich füllte seinen Napf und rief nach ihm, aber er kam nicht. Blieb in seinem Körbchen liegen, und den Fußboden davor, das sah ich erst jetzt, hatte er vollgekotzt.
Meine Güte, das hatte mir gerade noch gefehlt! Aber eine Sekunde später traf mich so etwas wie ein Geistesblitz: Auf einmal wusste ich, was für eine irre Geschichte ich meinem Schwesterchen auftischen konnte.
Ich holte tief Luft, machte die Tür zum Kinderzimmer weit auf und rief: »Guten Morgen, Geburtstagskind! Aufstehen, das Frühstück ist fertig!«
Kessy machte die Augen auf und lächelte. »Falsch, Benny! Du musst sagen Guten Morgen, kleine Zirkusprinzessin!« Schon war sie aus dem Bett und barfuß auf dem Weg zur Küche.
»Stopp, Prinzessin!“«, rief ich und versperrte ihr den Weg. »Lass dich erst mal drücken!« Ich schloss sie in die Arme. »Alles Gute zum Geburtstag, Schwesterlein! Aber Zirkusprinzessin kannst du erst am Freitag sein, wenn Papa kommt.«
Kessy sah mich aus großen Augen an. »Wie-so?«
»Weil was mit deinem Zirkusprinzessinnenkleid passiert ist, meine Süße.«
»Mit meinem Kleid? Was denn? Und wo ist Mama?«
»Mama hat es auf den Tisch gelegt, und Napoleon wollt es sich anschauen – du weißt ja, wie neugierig er ist. Na, und da muss ihm übel geworden sein, und er hat angefangen zu spucken – und volle Kanne auf dein Kleid. Wahrscheinlich hat er sich den Magen verdorben. Sieh mal, schon wieder!« Ich zeigte auf das Erbrochene vor seinem Körbchen.
»Iiiih, Napoleon!«, rief Kessy.
Ich nahm Küchenrolle und machte den Fußboden sauber.
»Und wo ist Mama?«, fragte Kessy noch einmal.
Ich erzählte ihr nun das nächste Märchen: dass Mama vorhin mit dem vollgekotzten Kleid zur Reinigung gefahren war. Und dass Papa ihr, falls die den Fleck nicht rauskriegen würden, am Freitag ein neues Kleid mitbringen würde. »Sind ja nur noch zwei Tage bis dahin«, versuchte ich sie zu trösten. »Und sieh mal, Kess, da sind noch andere Geschenke für dich.«
Kessy war tatsächlich getröstet und schaute sich ihre Geschenke an. Ich wischte mir ein paar Schweißperlen von der Stirn und sagte: »Jetzt aber ab in die Dusche. Dann frühstücken wir, und falls Mama bis dahin nicht zurück ist, bringe ich dich in den Kindergarten.«
Als Kessy geduscht und angezogen war, machte ich rasch die Milch für ihren Kakao warm. Ich zündete fünf Kerzen auf dem Geburtstagskranz an und schaute unauffällig zur Uhr: Bis zum Unterrichtsbeginn würde ich es mit Sicherheit nicht schaffen. Egal. Aber Tim schickte ich rasch noch eine Nachricht. »Ausnahmezustand. Erscheine zur zweiten Stunde.«
Kessy kauerte derweil vor Napoleons Körbchen und streichelte den Kater. »Mein armer, armer süßer Napoleon! Weißt du, ich bin dir überhaupt nicht böse wegen dem Kleid. Hauptsache, du wirst ganz schnell wieder gesund.«
»Das wird schon wieder«, sagte ich, »komm, dein Kakao ist fertig.«
Mir war der Appetit gründlich vergangen, aber ich passte auf, dass Kessy in aller Ruhe ihren Kakao trank und ihr Müsli aß. Ab und zu blickte ich zur Uhr. Eigentlich war es an der Zeit zu gehen, doch ich hoffte immer noch, dass Mama auftauchen würde. Ich wartete bis zur allerletzten Minute, dann zog ich mit meiner kleinen Schwester los.
ICEzeit. In den Klauen des weißen Drachen Crystal, Thami Verlag, Neunhofen 2017
Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin.