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Isegrimm

Antje Babendererde

 

Ich ver­schlucke einen ungläu­bi­gen Laut, als ich die win­zi­gen Mäu­se­ka­da­ver im Gezweig erblicke, vier an der Zahl, blu­tig gepfählt auf den lan­gen Dor­nen des Schlehenstrauches.

Er ist nicht in der Nähe, der Wür­ger mit sei­ner schwar­zen Augen­binde, sonst hätte er mich längst ent­deckt. Behut­sam schiebe ich einen Zweig zur Seite und da ist es, das ein wenig unför­mig gera­tene Nest. Sie­ben grün­li­che Eier mit pur­pur­nen Flecken lie­gen in ihrer flau­schi­gen Mulde aus Woll­gras, Dau­nen­fe­dern und Tierhaar.
Tier­haar? Ich schaue genauer hin. Nein, dafür ist es zu fein, zu lang. Eine gelockte Strähne hat sich vom dor­nen­be­wehr­ten Pan­zer des Nestes gelöst, die hel­len Haare bewe­gen sich sacht im war­men Mai­wind. Men­schen­haar, durch­zuckt es mich. Schau­dernd lasse ich den Ast los, der mit einem Rascheln zurückschnippt.
Plötz­lich ein raues Krei­schen dicht über mir. Das weiße Nacken­ge­fie­der des amsel­gro­ßen Vogels ist gesträubt, der Kopf nach vorn gestreckt, sein lan­ger Schwanz auf­ge­fä­chert wie bei einem Pfau. Vor Schreck mache ich eine unbe­dachte Bewe­gung, meine Füße ver­lie­ren den Halt auf dem umge­stürz­ten Bir­ken­stamm und ich rau­sche durch die Zweige der Schlehe. Dor­nen­spit­zen rit­zen meine Haut wie scharfe Nadeln, ver­ha­ken sich in mei­nem T‑Shirt und zer­ren an mei­nem Haar. Mit einem hei­se­ren Schrei lande ich auf dem Hosen­bo­den im Gras.

Der weiß-schwarze Vogel mit dem dunk­len Haken­schna­bel schep­pert und kreischt. So wütend kann Angst klin­gen. Für den Wür­ger bin ich ein Feind, der Vogel ver­tei­digt seine Brut und seine maka­bere Vorratskammer.

Ich will ihn nicht stö­ren. Schnell rap­pele ich mich auf und schul­tere mei­nen klei­nen schwar­zen Ruck­sack. Mit hasti­gen Schrit­ten laufe ich quer über die Wiese zum Wald­rand, tau­che in den blauen Schat­ten der Kie­fern. Mein Herz rast, doch der Auf­ruhr kommt nicht allein vom Schreck, den der Vogel mir mit sei­nem Geze­ter ein­ge­jagt hat.

Ich kenne jede Ecke, jeden Win­kel die­ses Wal­des, jeden Baum, jeden Stein und jede Kuhle, und ich bin ganz bestimmt kein Angst­hase – doch gegen die grau­en­volle Erin­ne­rung, die das gelockte Haar am Nest des Vogels in mir her­auf­be­schwört, bin ich macht­los. Sie fährt mir unter die Haut wie ein schar­fer Splitter.
Unver­mit­telt ist alles wie­der da, frisch, schmerz­haft und beklem­mend. Vor fünf Jah­ren ver­schwand aus unse­rem Dorf ein elf­jäh­ri­ges Mäd­chen. Alina, ein blond­ge­lock­ter Engel – meine beste Freun­din. Ein Mann aus unse­rem Dorf hatte sie getö­tet, aber ihre sterb­li­chen Über­re­ste hatte man nie gefunden.
Ich stol­pere über eine Wur­zel und unter­drücke einen Fluch. Als ich den Kopf ein­ziehe, um mich unter einem Kie­fern­ast hin­weg zu ducken, spüre ich plötz­lich die dunkle Schwere eines Blickes in mei­nem Rücken. Die fei­nen Här­chen auf mei­nen Armen rich­ten sich auf. Wer sollte mich hier beobachten?
Ich fahre herum, mein Blick hetzt über das Dickicht von Bee­ren­sträu­chern, Bir­ken­ge­strüpp und Kie­fern­schöss­lin­gen. Meine Sinne sind ange­spannt, meine Atmung beschleu­nigt sich, Kälte steigt mir das Rück­grat hinauf.

Da … ein lei­ses Rascheln hin­ter dem Gesträuch. Bin ich nicht allein? Schwach­sinn, sagt mein Ver­stand, doch mein Blick ver­sucht fie­ber­haft das wuchernde Grün zu durch­drin­gen. Ein Reh ver­mut­lich. Was sonst? Ich spüre das Pochen mei­nes Her­zens im gan­zen Körper.

„Hallo“, rufe ich. „Ist da wer?“

Meine Stimme klingt fremd und wack­lig. Ich stehe und lau­sche, bis mir die Ohren dröh­nen. Das Knacken bre­chen­der Zweige been­det die Stille und mein Mut schrumpft. Ich drehe mich um, gehe ein paar Schritte rück­wärts, dann laufe ich los. Ich achte nicht auf die Äste, die mir ins Gesicht peit­schen und nicht auf mei­nen Ruck­sack, der mir gegen den Rücken schlägt. Wie gehetz­tes Wild springe ich über Wur­zeln und am Boden lie­gende Äste, schlid­dere einen Gras­hang hin­un­ter und komme wie­der auf die Füße. Ich kann ziem­lich schnell und lange ren­nen, ohne aus der Puste zu kom­men, aber dies­mal keu­che ich wie eine alte Frau.

Das macht mich wütend. Ich bin die Her­rin des Wal­des, er ist mein Refu­gium – und ich habe mich von einem lächer­li­chen Knacken in die Flucht schla­gen las­sen, bloß wegen einer däm­li­chen Haar­strähne an einem Vogelnest.

Lass es nicht zu, Jola, warnt die Stimme in mei­nem Kopf. Du hast keine Angst. Du kennst keine Angst. Lass nicht zu, dass sie Besitz von dir ergreift, sonst endest du wie deine Mut­ter. Angst ist eine Falle, Angst macht dich zum Opfer. Sie kann dich auf­fres­sen wie ein wil­des Tier und nichts als blei­che Kno­chen übriglassen.
Doch meine Beine wer­den immer schneller.

Ohne mich umzu­dre­hen oder aus­zu­ru­hen, lasse ich zwan­zig Minu­ten spä­ter die Schat­ten des Wal­des hin­ter mir und errei­che den Holz­stoß am Forst­weg. Mein Fahr­rad, das mich zurück ins Dorf brin­gen wird, lehnt an den sau­ber auf­ge­sta­pel­ten Stäm­men. Das Adre­na­lin tobt noch durch mei­nen Kör­per, ich habe Sei­ten­ste­chen – aber alles ist wie­der unter Kon­trolle. Als ich nach dem Len­ker greife, nehme ich im lin­ken Augen­win­kel eine schat­ten­hafte Bewe­gung wahr.
Ein dump­fer Schrei kommt aus mei­ner Kehle, ich reiße die Arme in die Höhe, stol­pere ein paar Schritte rück­wärts und setze mich zum zwei­ten Mal an die­sem Tag auf den Hosen­bo­den. Ein zer­zau­ster schwar­zer Locken­kopf erscheint hin­ter dem Holz­stoß, ich blicke in Kais Grinsegesicht.

„Hey, was ist denn mit dir los?“, fragt er mit gespiel­ter Besorg­nis. „Du siehst aus, als hät­test du ein Eich­hörn­chen verschluckt.“

Meine Hände tasten über den Wald­bo­den und wer­den fün­dig. Ich bewerfe Kai mit Kie­fern­zap­fen und Rinde, schimpfe wie ein Rohr­spatz, habe end­lich jeman­den, an dem ich die Wut über meine Angst aus­las­sen kann.

„Idiot“, stoße ich her­vor, „du sollst dich nicht so anschleichen.“

Kai lacht. Sein war­mes, ver­trau­tes Kai-Lachen. Mit ein­ge­zo­ge­nem Kopf und film­rei­fer Abwehr-Pan­to­mime kommt er auf mich zu und reicht mir seine Hand. Ich greife danach und mühe­los zieht er mich hoch.

Kai trägt aus­ge­wa­schene graue Cargo-Shorts und sein gelieb­tes schwar­zes Party Hard-T-Shirt, das er sich in Ber­lin auf unse­rer Klas­sen­fahrt gekauft hat. Kai Har­tung und ich ken­nen uns, seit wir krab­beln kön­nen. Er war mein bester Freund, bis in den Win­ter­fe­rien aus die­ser Freund­schaft mehr gewor­den ist.
„Hey, du blu­test.“ Kai lässt mich los und schiebt mit Dau­men und Zei­ge­fin­ger mei­nen Kopf zur Seite.

Ich fasse an meine rechte Wange, spüre, wie es brennt. „Ich habe ein Raub­wür­ger-Gelege ent­deckt, sie­ben grün­li­che Eier. Sie sehen aus wie gemalt, wun­der­schön. Dabei hab ich mir in der Schle­hen­hecke wohl das Gesicht zerkratzt.“

Kai betrach­tet mich mit einer Mischung aus mil­der Nach­sicht und Spott, aber sein Blick täuscht. Seit wir rich­tig zusam­men sind, geht ihm mein Fai­ble für den Wald und seine Bewoh­ner zuneh­mend auf die Ner­ven. Er fin­det Tiere nur mäßig auf­re­gend. Wie die mei­sten Jugend­li­chen, die auf dem Dorf auf­ge­wach­sen sind. Außer­dem will er mich nicht tei­len – nicht mal mit einem sel­te­nen Vogel.

In letz­ter Zeit läuft es für uns beide nicht mehr so gut. Genau­ge­nom­men seit drei Wochen, seit wir das erste Mal rich­tig mit­ein­an­der geschla­fen haben. Auf ein­mal habe ich das Gefühl, in einem Kokon gefan­gen zu sein, ein­ge­wickelt in Erwar­tun­gen, die mir die Luft abschnü­ren. Doch in mei­nem Inne­ren summt es. Es bro­delt. Es bebt. Es wartet.

Wor­auf? Ich weiß es nicht. Ich warte auf alles Mög­li­che. Dass etwas pas­siert mit mir. Dass das War­ten ein Ende hat.


Ise­grimm, Arena Ver­lag, Würz­burg 2016.
Der Abdruck erfolgt mir freund­li­cher Geneh­mi­gung des Arena Ver­lags Würzburg.

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