Bärbel Klässner
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Ich lehne den kopf gegen die wand, atme tief in die tiefen verzweigungen hinein
die verzweigten flüsse auf denen vertrocknete blattskelette treiben von linden von buchen wälder bilder erste kniestrümpfe die den mai einleiten/einläuten am vergnügungspark schiffshebewerk die dünnen zöpfe vom kopf gebaumelt herunter in die schwere des tages gehängt brot geholt staub gewischt zerschlagene stunde von gelbstichigen/wurmstichigen fotografien hans in uniform ludmilla in hoch geschlossenem kleid mit kerzengradem rücken schneid dir eine scheibe ab! fragen in essigsaures klagen getunkt laub geharkt gräberputz erste raumfahrt die toten die toten im himmel überm bett
Jemand hat mich im keller des archivs vergessen. Ich lehne den kopf gegen stein, spreche dankgebete aus eigenen worten
aus eigener kraft mit eigener stimme danke einmal für all die vielen apparate die apparate die gelenkt/abgelenkt von kindesbeinen auge und schneidezähne des radios drehender teller und seismograph meiner wehentätigkeit schwarz weiß bild in farbe graue rote blaue hörer verbindungsmembranen herztonverstärker die sendungen über die sendungen die programme für die programme das klingeln und piepen das allezeitdasein der letzte apparat der mich beatmet die beatmeten/besprochenen apparate ich habe sie immer ja immer geliebt
Ich lehne die tür gegen den kopf, schweige in mein schweigendes atmen hinein
Ich möchte sehr gern ein schweigen betreten wie eine alte weidenallee dass die briefschulden von mir abfallen und ein wörterbuch fällt ab alle streitgespräche mein profil mein leises bedauern das pflichtverteidigte erbe fällt ab das alter das ewige warten auf wohlstand abfall/abfällt nicht weit vom stamm und es fallen alle verzeihungen ab und verzweigungen verzweiflungen formulare und bedeutet fällt ab und ein apfel und das bild blechwarm vom apfel fällt ab und ich
Ohne schrei und vermögen mein verblutender zorn
jemand hat mich im keller des archivs vergessen
ich zerlaufe unter dem wasser gurgelnden rohr
system verlaufe mich in rohr systemen
ich in diesen abgewohnten kleidern
mit dieser sogenannten patch work identität
mit der haut von gestern dem rücken zur tür
jemand hat mich im keller des archivs vergessen
geringer lichtfall ritzenexistenz in nachbarschaft
das kriechgetier das sich an meinen nervenbahnen
abseilt ins freie entkommt spottet und flucht
ich sehe halbe beine auf hochgestelzten füßen
die eisernen treppenstufen überstöckeln
ich in diesen von krankheit gezeichneten kleidern
mit dem ruf von gestern der grau gewordenen
zuversicht zwischen all den großen runden
blechernen dosen in denen die alten filme
wohnen ich mit diesem ausgebluteten stolz
jemand hat mich im keller des archivs vergessen
aus: Der zugang ist gelegt. gedichte & fließtexte, Leipzig 2008, Erata Literaturverlag.
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Alle Rechte bei der Autorin.