Ingeborg Stein
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Etwa zehn Tage, bevor die Eröffnung des Hauses zum 400. Geburtstag von Heinrich Schütz mit großem Aufwand staatlicher Delegationen stattfinden soll, erreicht mich die Nachricht: Kurt Hager ist unterwegs, er will das Schützhaus besichtigen, gleich wird er da sein… Der Chefideologe der SED, der in Köstritz ein Gästehaus unterhält, will sehen, wie weit wir sind mit unseren Vorbereitungen für das große Ereignis, in seinem Wahlbezirk!! Da hilft nur eines: Nerven behalten!
Im Haus gibt es noch nichts, was sich zeigen ließe – keine Vitrinen, keine Ausstellungsstücke – ein praktisch leeres Haus, voll nur von Handwerkern, Künstlern, Arbeitern im Stress.
Und da ist er auch schon da, der Herr Chefideologe, in Begleitung einiger Herren, die sich dezent zurückhalten.
»Statt des Baulärmes müssen Sie sich in zwei Wochen hier im Foyer Musik von Heinrich Schütz vorstellen«, beginne ich meine Information. »Und hier steht eine große Büste von Heinrich Schütz, geschaffen von der Jenaer Bildhauerin Gabriele Reinemer«, sage ich und weise auf eine, noch leere Natursteinmauer. Links, hier im Musiksaal, hoffen wir auf die Experten Alter Musik, aber sicher auch Besucher, die selbst musizieren wollen. Am Kopfende steht dann ein Cembalo aus einer der traditionsreichen Eisenberger Werkstätten. Eigentlich sollte es in den Westen geliefert werden, die Kollegen haben aber vor, uns zu bevorzugen«. Diese Bemerkung konnte ich mir als kleine Spitze gegenüber dem Gast nicht verkneifen…
Um in die obere Etage zu gelangen, muss der Gast (da gerade die zwei untersten Stufen erneuert werden) über einen Stuhl zu den folgenden Treppenstufen steigen. Eine schwierige, sicher lange nicht geübte sportliche Leistung für den alten Herrn, doch er schafft es. Beim Treppenaufgang stütze ich ihn, denn noch fehlt das Geländer, und ich erkläre, dass hier im Aufgang schöne Kupferstiche von Matthäus Merian zu Lebensstationen von Heinrich Schütz zu sehen sein werden.
Links beginnt der Rundgang durch den Ausstellungstrakt in Raum 1 zu Schütz’ Kindheit und Jugend. Ich tue, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, wenn ich ihm, den in imaginären Denkmustern befangenen Ideologen jetzt lauter Dinge erzähle, die er sich vorstellen muss, statt sie zu sehen ( schließlich übt er diese Praktiken in seinem Amt ja täglich, denke ich etwas schadenfroh!).
»In der Mitte des Raumes müssen Sie sich den Nachbau eines Musiziertisches vorstellen, wie er im häuslichen Kreis damals üblich war, darum ebenfalls nachgebaute Dreibein-Hocker mit Lederpolstern gruppiert. Wir werden die Räume so gestalten, dass im Zentrum immer ein Exponat bestimmend ist, auf das sich die erklingende Musik bezieht, die bei Betreten des Raumes von der Führungskraft ausgelöst wird, aber auch von der Tonzentrale eingespielt werden kann. Also hier, wo die Kindheit und Jugend von Schütz das Thema sind, hören Sie in Stereoübertragung Instrumentalmusik des 16./ 17. Jahrhunderts und gesellige Lieder. Ein »gebundenes Clavichord« mit einem zeittypischen Deckelgemälde (ein Nachbau ist in Arbeit), wurde bei solchem Musizieren auch gern gebraucht. Die Jenaer Malerin Gerlinde Böhnisch- Metzmacher, erlaubt sich – wie sie mir schon verraten hat – damit einen Scherz, indem sie das historische Vorbild mit einigen Physiognomien von in Jena in der Kunstszene gut bekannten Persönlichkeiten anzureichern gedenkt.
In den Vitrinen werden Sie dann schöne Faksimiledrucke von Büchern und Noten bewundern können, die zum Ausbildungsprogramm in Schütz’ Jugend gehörten.«
Ich erspare ihm und mir die Aufzählung der vielen bedeutenden Gelehrten, die am Hofe Moritz’ von Hessen, des »Gelehrten«, ein- und ausgingen und mit denen Schütz als Schüler des Mauritianums und späterer Student der Rechtswissenschaften in Marburg in Kontakt kam, teils auch mit ihnen befreundet oder auch verwandt war. Blindbände von ihrer Gebrauchsliteratur werden davon reichlich ausliegen.
Lieber locke ich Herrn Hager zur nächsten kahlen Wand, um zu berichten, dass dort das Münzwesen der Schütz-Zeit seinen Platz haben wird, in Dubletten gearbeitet von dem hervorragenden Münzsachverständigen in Gera, Peter Brozatus. Auch die zeitgenössischen Gemälde und Porträts von Schütz, die gleich anschließend folgen, werden hinsichtlich ihrer Authentizität hinterfragt.
Ich spüre, wie Kurt Hager, zunächst sehr irritiert, dass noch nichts, aber auch gar nichts von alledem zu sehen ist, was ich ihm so bildhaft erzähle, zunehmend interessiert meinen Worten folgt.
So fahre ich, jetzt voll in meinem Element, fort: » Jetzt versetzen Sie sich bitte in Gedanken mit mir nach Venedig um 1610. Hier lernte der junge Schütz in der Hauptkirche von San Marco das prächtige Musizieren von mehreren Emporen aus kennen, wie es Andrea und Giovanni Gabrieli in ihren Werken als Novität ihren staunenden Zeitgenossen und Gästen aus ganz Europa vorführten. Deshalb haben wir, außer wieder schönen Faksimile-Drucken, in diesem Raum viele Instrumente in einer großen Vitrine zusammengestellt« (keine Vitrine, keine Instrumente zu sehen, doch Hager nickt verständnisvoll). »Und wenn die Maler hier ihr Werk vollendet haben, werden unsere Besucher in jedem der Räume von einer anderen Grundfarbe entsprechend der Farbensymbolik des 17. Jahrhunderts empfangen, die unterschwellig die Vorstellungskraft stimuliert. Hier im Raum Italien zum Beispiel von einem leuchtenden Sonnengoldgelb. Und dann ist unmittelbar unterhalb der Decke noch eine Besonderheit geplant: Umlaufend durch den ganzen Raum und fortgeführt auch im nächsten, der dem Hofkapellmeister Heinrich Schütz gewidmet ist, werden von Weimarer Künstlern kopierte Fest- und Traueraufzüge ihren Platz finden, wie sie in Italien, nachgeahmt auch am Dresdner Hof, üblich waren. Auf meterlangen, so genannten »Rollbildern« dargestellt, geben sie einen Eindruck von der damaligen Zeit – ihrem Ständewesen, den Festen und Vergnügungen, den Spielen, der Mode, dem ganzen damaligen Weltwissen und ‑verständnis.
Und damit sind wir auch schon in Dresden, wo Schütz 57 Jahre lang als Oberhofkapellmeister wirkte. Die Mitte des Raumes wird ein Modell der Dresdner Schlosskirche einnehmen, Schützens täglicher Arbeitsort. Damit unsere Besucher eine Vorstellung von dem ungemein prächtigen Klang mehrchörigen Musizierens bekommen, wird als der Höhepunkt unserer Präsentation in einer quadrophonen Aufnahme aus Schütz’ »Psalmen Davids: Danket dem Herren, denn er ist freundlich« erklingen.«, ausgelöst von einer Führungskraft, die wir dann hoffentlich haben.
Ich verhehle gegenüber Kurt Hager nicht meinen Stolz, dass wir es sind, die diese Aufnahme zustande bringen – immerhin ist es die erste ihrer Art in der DDR. Dass die Apparatur vom »Westen« beschafft wurde, verschweige ich lieber.
»Auch an diesem Modell wird wieder die eigene Aktivität unserer künftigen Besucher angefragt sein, denn hier können sie selbst die Lichtsignale auslösen, die anzeigen, ob sie die erklingende Musik in richtiger Weise den Musiziergruppen zugeordnet haben, die in historischer Aufstellung auf den Emporen zu sehen sein werden.«
Der Baulärm, die leeren Räume um uns herum scheinen vergessen, ich habe den Eindruck, unser Gast versucht wirklich, meine Schilderung im Geist für sich umzusetzen.
Ich biete meine ganze Fantasie und Redekunst auf, die Situation so zu gestalten, dass der alte Politiker eine Ahnung davon bekommt, dass wir hier in Köstritz versuchen, Neuland im Museumswesen der DDR zu betreten. Ich erinnere, dass Musik gemeinhin immer nur »Beigabe« bei Präsentationen ist. Nach unserer Konzeption wird sie das, alles weitere Geschehen und Zeigen auslösende Hauptelement sein. So hoffen wir, dass auch unsere bewusst schlicht gehaltene Ausstattung mit Nachbauten, Modellen, Faksimiles, konzentriert auf das einzig wesentliche Original – die Musik – nicht als Notlösung wegen fehlender Ausstellungssubstanz empfunden wird, sondern als Bekenntnis zu etwas Neuem, das sich moderner Darstellungsmittel bedient.
»Paradigmatisch für unser Bemühen wird der Ausstellungstrakt Schütz und das Denken seiner Zeit sein«, fahre ich mit meinen Erläuterungen fort. »Im Zentrum dieses Raumes wird der Nachbau eines Modells des »Mysterium cosmographicum« stehen, wie es Johannes Kepler in seiner Erstlingsschrift (1609) dargestellt hatte, um das Weltall als ein in sich kreisendes harmonisches Ganzes vorstellbar zu machen. Akustisch wird der Besucher der Ausstellung zunächst von einem diffusen Rauschen empfangen, das in geheimnisvolles Tönen übergeht und sich nach und nach zu einem Ton bündelt, der in das großartige Schützwerk ›Die Himmel erzählen die Ehre Gottes› (SWV 386) hinüberführt.
Diese Tonproduktion lassen wir gerade von zwei Komponisten der Musikhochschule Weimar in Zusammenarbeit mit dem Rundfunk herstellen.«
Die zwei letzten Räume, ebenso leer wie alle anderen – eine Komponistenstube als Großvitrine und Schütz-Rezeption im Wandel der Zeiten – erspare ich Kurt Hager und mir.
Die zwei fehlenden Stufen sind an der Treppe inzwischen eingesetzt. So kann der Gast unbeschadet seinen Weg fortsetzen. Ob ihn das Erlebte etwas zum Nachdenken gebracht hat?
Nie wieder in meinem Leben habe ich eine derart komplette surrealistische Führung durch leere Räume vor weißen Wänden gemacht wie an diesem Tag! Noch heute frappiert mich, dass sie ausgerechnet für den Chef-Ideologen der DDR geschah…
Heinrich Schütz im Wendelicht. Erlebnisbericht, quartus-Verlag, Bucha 2015.