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Prolog

Anne Gallinat

 

Der Weg vom Rat­haus zu „Han­nes‘ Bistro“ ist kurz. Zu kurz, fin­det Stadt­rat Blü­cher. Man geht ein­mal quer über den Markt, auf dem am Mitt­woch abend wenig los ist. Zumin­dest nichts, was ein Zögern, Inne­hal­ten, einen klei­nen Auf­ent­halt recht­fer­ti­gen könnte. Im Gegen­teil. Am Markt­brun­nen lun­gern träge betrun­kene Punks herum. Laut­stark, aber ver­rauscht brüllt es aus einem stein­al­ten Kof­fer­ra­dio über den gan­zen Platz. Einige Punks pöbeln Vor­über­ge­hende an. Blü­cher beschleu­nigt seine Schritte. Vom Markt aus geht es rechts ent­lang ein paar Schritte die Fluss­straße hin­un­ter. Dann ist man da. Unweigerlich.
‚Viel zu kurz‘, denkt Stadt­rat Blü­cher und: ‚Warum gerade ich?‘ Sein Tempo ver­lang­samt sich zuse­hends, nach­dem er aus dem Blick­feld der müde rebel­lie­ren­den Jugend ent­schwun­den ist.
Er spricht sich sel­ber Mut zu. ‚Der Auf­trag ist wich­tig. Jemand Wich­ti­ges muss ihn erledigen.‘
Doch dann bleibt er erschrocken ste­hen. Gerät ins Schwit­zen. Auf sei­ner Stirn per­len unüber­seh­bar Schweißtropfen.
„Hoch soll er leben“ tönt es schräg und – wie Blü­cher fin­det – nahezu hun­dert­stim­mig aus der weit geöff­ne­ten Tür von „Han­nes‘ Bistro“. Der „Höl­len­ge­sang“ lässt das Grö­len der betrun­ke­nen Punks auf dem Markt im Nach­hin­ein gera­dezu lieb­lich klin­gen. Dort soll er hin­ein. Blü­cher packt Ent­set­zen. Es schüt­telt ihn durch und durch und macht all­mäh­lich einer Aus­rede Platz: ‚Unter die­sen Umstän­den… Gefahr für die eigene Gesund­heit und das Leben… ja, so ist es… muss ich nicht. Nicht heute.“
Doch er hat die Rech­nung ohne den Wirt gemacht, denn in die­sem Augen­blick wird Han­nes in der Tür sei­nes Bistros sicht­bar und erkennt den Stadt­rat auf der Stelle.
„Blü­cher­chen, mein Gott. Mir hob’n uns lange ni gesehn. Des is scho gar nim­mer rich­tig wahr. Nu, komm‘ scho rein, Blü­cher­chen. Mir fei­ern mei fuff­zig­sten Geburtstag.“
Stadt­rat Blü­cher hat keine Lust auf Han­nes‘ Geburts­tags­feier. Aber da Han­nes gerade hier drau­ßen ist, noch dazu ganz allein, könnte man viel­leicht doch, sofort und auf der Stelle den Auf­trag aus dem Rat­haus erle­di­gen. Und so wischt sich Stadt­rat Blü­cher ver­stoh­len die ver­däch­ti­gen Schweiß­per­len von der Stirn und bemüht sich um ein stren­ges Gesicht: „Des­halb bin ich nicht hier.“
Blü­cher sucht nach star­ken Wor­ten: „Han­nes. So geht das nicht wei­ter. Wenn hier nicht end­lich was pas­siert, dann machen wir den Laden ein­fach zu. Schluss. Aus mit ‚Han­nes‘ Bistro‘.“
Es ist her­aus. Stadt­rat Blü­cher ist durch­aus zufrie­den mit sich selbst. Bei­nahe. Doch warum schaut Han­nes ihn so selt­sam an? Seufzt? Und was ist das?
„Ach, Blü­cher­chen. Was soll des. Is do gewis­ser­ma­ßen ›ne Attrak­tion hier. Schau mal: Des sin die eenz­schen Fen­ster inne Stadt, wo’s im Win­ter noch Eis­blu­men anne Schei­ben hat.“
Das ist Han­nes Reak­tion auf seine star­ken Worte.
Die Ver­wir­rung steht Stadt­rat Blü­cher ins Gesicht geschrie­ben. Er ist eini­ges gewöhnt. Schmei­che­leien. Anpö­be­leien. Dro­hun­gen. Und mehr. Dass einer jedoch die Exi­stenz sei­nes her­un­ter­ge­kom­me­nen Bier­schup­pens mit dem win­ter­li­chen Vor­han­den­sein von Eis­blu­men recht­fer­tigt, liegt außer­halb sei­ner Erfah­run­gen. Und das auch noch gereimt. „Stadt – hat“. Was den Stadt­rat jedoch am son­der­bar­sten berührt: Die Per­son, die ihn mit lyrisch-träu­me­ri­scher Daseins­be­grün­dung ver­wirrt, wirkt kei­nes­wegs roman­tisch. Han­nes‘ aus­la­dende Kör­per­for­men legen die Ver­mu­tung nahe, dass er sich am lieb­sten ruhend in einem Leder­ses­sel oder auf dem Sofa auf­hält. Was unterm Hemd und aus der Hose her­vor­quillt und über­schwappt, fin­det sel­ten sei­nes­glei­chen. Zudem müht sich Han­nes kei­nes­falls darum, die über­schüs­si­gen Fleisch­mas­sen dezent unter wei­ter Klei­dung zu ver­ber­gen. Der schlump­rige Pull­over ist zu kurz. Er rutscht nach oben. Lässt mit­un­ter nack­tes Fett sicht­bar wer­den. Und breite gestreifte Hosen­trä­ger. Im kras­sen Gegen­satz zu sei­nem kör­per­li­chen Zuviel steht der spär­li­che Haar­wuchs. Im fei­sten Gesicht aber blit­zen ver­we­gen fre­che Jun­gen­au­gen und mit­un­ter zuckt es Han­nes spöt­tisch in den Mund­win­keln. Viel­leicht ist es das? Stadt­rat Blü­cher prüft even­tu­elle Ver­for­mun­gen und den Aus­druck des Mun­des, dem soeben uner­war­tet poe­ti­sche Worte ent­schlüpft sind. Doch da ist nichts zu sehen.
Statt­des­sen sagt Han­nes: „Nu, komm‘ schon, Blü­cher­chen. Ma wird nich alle Tage fuff­zig. Ich mach‘ dir a ä Bier­chen, ä richt’sches Geburtstagsbierchen.“
In die­sem Augen­blick dringt eine neue San­ges­welle aus dem Bistro auf die Straße. Dazu auf­ge­regte Rufe: „Han­nes, wo biste. Komm scho wie­der nein.“
Und Blü­cher sagt: „Aber diese Leute hier…“
Han­nes lacht: „Die tune nie­mand nischte mehr.“


aus: Han­nes‹ Bistro, Geschich­ten von der Straße, Rudol­stadt 2010.
Alle Rechte bei der Autorin.
Abdruck mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Autorin.

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