Robert Sorg
Samstag, 10.45 Uhr:
vorm Fernsehapparat, langsam wegdösend, fand ich, gänzlich unvermittelt, eine Mitte, die mich mit einer ungewöhnlichen Leichtigkeit ausfüllte. Bis zu meinem Erwachen hielt diese Stimmung an, dann fiel sie ab.
Sonntag, 11.36 Uhr:
Der erste Kaffee. Im Radio wird vom graduellen Unterschied zwischen Mensch und Tier berichtet. Im Hinterhof spielen Kinder, ihre Mütter sitzen an einem Tisch.
Gestern hatte ich mich im Zimmer verborgen. Das Radio dröhnt, der Fernseher läuft ohne Betrachter im Nebenzimmer. Im Hinterkopf die Aufgaben der nächsten Wochen. Das unrhythmische Schlagen der Tasten einer antiquierten Schreibmaschine dringt aus einem Fenster über den Hof, fällt in die Leerstellen zwischen Gesprächsfetzen und Kindergeschrei.
Ich erinnere mich an einen Wald, den ich kürzlich betrat. Er war durchzogen von Ameisenstraßen, ohne Anfang, ohne Mündung. Ich schließe die Augen und finde das Bild eines Fotos: Als Zehnjähriger blicke ich mit der Freude eines Kindes, im Schlafanzug, kurz vorm Zu-Bett-Gehen, ins Objektiv der vom Vater gehaltenen Kamera.
Im Radio: der Klang einer Glocke, die der Freiheit geweiht wurde. „Ich glaube an die Unantastbarkeit und die Würde jedes einzelnen Menschen …“
Innen: Über das Foto flirren, unzählbar, Ameisen. Ich bin im Wohnzimmer meiner Eltern, das es schon lange nicht mehr gibt. Auf der Couch mache ich Rumpfbeugen. Übung für das, was später kommt. Jetzt sitze ich da und blicke auf die Stelle, wo mein Vater stand mit der Kamera in der Hand. Es dämmert, durch den Türspalt dringen die Ameisen.
Im Radio: „Wir alle haben alles richtig gemacht, und trotzdem kommen wir nicht über die Runden“ protestiert ein israelischer Demonstrant.
Draußen steht die Sonne im Zenit. In ein paar Tagen kommt der Lohn und der Herbst. Ich werde in die Stadt gehen …
später
auf dem Heimweg, bekam mich das sonderbare Gefühl, dass ich mich in den meisten Dingen geirrt hatte – meine inneren Sicherheiten und Gewissheiten verschwanden – nun war ich frei.
aus: Feldrandzeichen, Literarische Gesellschaft Thüringen e.V., Weimar 2016.
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