Katrin Lemke
GEH ALLEIN WEITER. DU KANNST ES.
Ricarda Huch kommt am Abend des 1. Januar 1887 als angehende Studentin nach Zürich. Seit kurzem ist in der Schweiz möglich, was es in Deutschland zu dieser Zeit noch nicht gibt: Frauen können ein Universitätsstudium aufnehmen und dieselben Abschlüsse absolvieren wie Männer. Ricarda ist 22 Jahre alt. Um die Anstandsregeln einzuhalten, nach denen es sich nicht gehörte, als unverheiratete junge Frau allein zu reisen, wird sie von ihrem Bruder Rudolf begleitet. Am nächsten Morgen gehen die beiden auf Wohnungssuche und werden wider Erwarten schnell fündig. Ricarda entscheidet sich für zwei möblierte Zimmer in der Hottinger Gemeindegasse 25 bei Frau Wanner; nicht so sehr die Wohnung, aber die Wirtin gefällt ihr. „Frau Wanner hatte ein rasches Wesen und ein lustiges Zwinkern in den Augen; ich war sofort überzeugt, dass wir uns verstehen würden.« So leicht fällt die Entscheidung. Rudolf reist ab.
Im benachbart gelegenen Zeltweg wird die junge Frau öfter einem alten Herrn begegnen, „klein und gebückt, für sie aber „eine große, verehrte Gestalt - Gottfried Keller.
Die angehende Studentin nutzt das erste Jahr, zielgerichtet und mit spürbarer Freude am Lernen und an der neu gewonnenen Freiheit, um die Maturitätsprüfungen ‑Voraussetzung für ein Universitätsstudium ‑vorzubereiten und ohne Verzug erfolgreich abzulegen. Sie nimmt Privatunterricht und steht dazu „spätestens um sieben auf; „ … oft spielte mir Frau Wanner dann einen Walzer … am Klavier - und ich tanzte dazu. Dann arbeitete ich mit kurzen Pausen bis Mitternacht.«
„Dank meines guten Unterrichts und meines Fleißes wurde mir das Examen leicht. Die meisten Prüflinge waren schlecht vorbereitet … viele gingen auf gut Glück, fast ohne Kenntnisse hinein. Ich stellte bei den schriftlichen Arbeiten eine Art Nachrichtenbüro vor, das nach allen Seiten die Bedürftigen bediente. Bei einem Examen geht es gewöhnlich so, dass, wenn der erste Tag gut verlaufen ist, die günstigen Ergebnisse sich wie von selbst steigern: die Zuversicht der Geprüften wächst und ebenso die günstige Stimmung der Prüfenden, es bildet sich zwischen ihnen eine Atmosphäre des Erfolges. So ging es damals mir: die Zeit verging mir wie ein Fest. Als das Ergebnis mitgeteilt wurde, verkündete Professor Blummer, der derzeitige Rektor, dass ein Examinand in allen Fächern die erste Note bekommen habe, was seit Jahren nicht vorgekommen sei.« Die so Gelobte empfindet – ohne direkt mitzuteilen, dass sie jener „Examinand« gewesen sei – zu Recht Stolz, war doch Studieren für junge Frauen erst seit kurzem überhaupt möglich, und die Universität Zürich hierbei eine Vorreiterin. Die Bezeichnung „Examinandin mag für den Rektor noch ungebräuchlich und ungewohnt gewesen sein, wie sich auch nicht wenige seiner akademischen Kollegen mehr oder weniger ablehnend gegenüber dieser neuen Erscheinung im Bild der Universität, dem Frauenstudium, verhielten. Die junge Ricarda Huch wird genau zu differenzieren lernen, wer vom Lehrkörper ihre Bildungsfreude teilt und fördert und wer sie als unstatthaften Übergriff auf diese bisher vor allem männliche Sphäre empfindet. Sie und ihre Freundinnen stellen sich darauf ein, ohne sich beirren zu lassen. Sie fühlen sich – mit spitzer Zunge gewappnet – stark genug, um ausgesprochene Hasser des Frauenstudiums unter den Dozenten ironisch zu betrachten, was sich sogar in einem gemeinsam verfassten „Werk« niederschlagen sollte, dem der Titel „Der Rachedolch« zugedacht war. Der Versuch, dafür einen Verleger zu finden, scheitert jedoch. Wenige Jahre später wird das Frauenstudium eine beinahe „alltägliche Sache« sein.
Die Auswahl ihrer Studienfächer an der Züricher Universität fällt der jungen Frau nicht leicht, hat sie doch im Ohr noch die Warnungen der geliebten und respektierten Großmutter, sich besser nicht auf die Natur wissenschaften einzulassen, weil diese sie womöglich von Christentum und Religion wegführen könnten. Den Naturwissenschaften gehört aber durch aus zumindest ein Teil von Ricardas Interessen, weshalb sie sich nur zögerlich entscheidet. Schließlich fällt die Studienwahl auf Geschichte, Philologie und Philosophie; die Einschreibung erfolgt am 21. April 1888. Drei Jahre später, im Juni 1891, legt sie das Diplomexamen für das höhere Lehramt ab und zugleich die mündliche Doktorprüfung; ihre Dissertation schreibt sie zum Thema „Die Neutralität der Eidgenossenschaft während des spanischen Erbfolgekrieges«. Nun tritt sie, da das ohnehin nicht üppige väterliche Erbteil aufgebraucht ist, eine erste Arbeitsstelle in der Stadtbibliothek von Zürich und wenig später eine Lehrerinnenstelle an, um vom selbstverdienten Geld leben zu können. Am 11. März 1892 wird Ricarda Huch das Diplom überreicht.
Betrachtet man diesen verblüffend zügigen akademischen Werdegang, so erscheint es, als würde man mühelos gefällig aufeinander abgestimmte Perlen auf eine Schnur fädeln. Das Ergebnis – eine glänzende Kette. Abitur, Studium, Diplom, Promotion. Anregende Lehrer, vertraute Freunde, die zur Heimat werdende Stadt Zürich, die bald schon geliebte Schweiz. Diesem Eindruck kann man sich nicht verwehren, liest man die kleine autobiografische Studie, die Ricarda Huch fast fünf Jahrzehnte später unter dem Titel „Frühling in der Schweiz niedergeschrieben hat, aus der diese Beschreibungen stammen.
Es müssen jedoch Umstände und Hintergründe ihres Lebens mitgedacht werden, die mit müheloser oder gar reibungsloser Entwicklung nichts zu tun haben.
Als Ricarda Huch am Silvestertag 1886 Braunschweig verlässt, um nach Zürich zu gehen, liegen fast vier Jahre hinter ihr, in denen sie eine höchst eigenwillige Liebesbeziehung durchlebte. Sie betraf nicht nur zwei Liebende, sondern drei und sie besaß das Potential, ihre ganze Familie zu sprengen: Ricarda hatte sich mit 18 Jahren in ihren Cousin und Schwager Richard Huch verliebt, der mit ihrer älteren Schwester Lilly verheiratet und in dieser Ehe auch bereits Vater war. Die Liebe wurde von Richard, 14 Jahre älter als Ricarda, leidenschaftlich erwidert und hielt, zunächst heimlich, dann als kaum noch zu verbergendes Verhältnis, über n1ehrere Jahre an, genährt durch eine Art trotziger Treue, mit der die Liebenden auf die Unmöglichkeit reagierten, zusammenzukommen. Dabei stand die starke und ausschließliche Neigung Ricardas, die bereit war, alles zu wagen, auch des Nachts Fenster offen stehen zu lassen, um den Geliebten empfangen zu können, in auffälligem Gegensatz zu der Richards, der, wenn auch zögernd und leidend, in seiner Ehe blieb, in der in diesen Jahren noch zwei weitere Kinder geboren wurden . Das Verhältnis zwischen den Schwestern zerbricht über dieser Konstellation für nahezu 40 Lebensjahre, die Eltern sind entsetzt, die Großmutter – die eigentliche Herrscherin des Hauses – sucht, erschüttert und besorgt, nach Auswegen aus der Situation. Sie ergreift Partei für ihre Enkelin Lilly, ist entsetzt über ihren Liebling Ricarda, führt moralische Argumente ins Feld, will die 18-Jährige zum Rückzug aus dem Verhältnis bewegen, fürchtet um den „guten Ruf ›.
Ist sie über das Verhalten Richards ebenso erschüttert? Gelten die Moralpredigten auch dem Mann, der so jung und unerfahren nicht mehr ist – Richard ist zu Beginn des Liebesverhältnisses mit Ricarda 32 – oder „darf‹ der Mann das? Die geballte Ablehnung betrifft beinahe ausschließlich die junge Frau, die sich in den Verdacht gestellt sieht, die Verführerin und somit die (alleinige) Schuldige zu sein.
Vor solcherart konfliktreichem Hintergrund erscheint es schließlich als befreiender Ratschluss, ein Studium zu suchen, das die anderen Seiten im Wesen der jungen Frau, die auch vorhanden sind, zu nutzen und zu entwickeln vermag: ihre intellektuellen Fähigkeiten, ihre Lernfreude und ihren Hunger nach eigener Charakterausbildung und persönlicher Geltung – mit dem Ziel, eine Lebensgestaltung zu finden, die auch eine finanziell unabhängige Existenz ermöglicht.
aus: Ricarda Huch: Die Summe des Ganzen – Leben und Werk, Weimarer Verlagsgesellschaft, Wiesbaden 2014.
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