M.Kruppe
Er war wahrscheinlich ein ganz normaler Typ bevor ich ihn kennen lernte.
Und ich hätte ihn vielleicht nie kennen gelernt,
wenn er ein ganz normaler Typ geblieben wäre.
Kleinstädter in der Umbruchzeit.
Einer von vielen,
die im Taumel eines kollabierenden Systems unter die Räder kam
und auf dem Asphalt des Neuen erstickte.
Mitte Zwanzig war er.
Ohne richtige Orientierung.
In seinem Jeans-Dress und dem Vokuhila,
den der zeitgeistlich unmodische Schnauzbart nur krönte,
hätte ich ihn nie zu den Freaks gezählt.
Eher hätte ich ihn in die Ecke Arbeiter gestellt.
Einer, dem nichts anderes übrig blieb,
als im größten Betrieb der Stadt,
einem Kugellagerwerk,
zu arbeiten.
Einer, der nach Feierabend seine zehn, zwölf Bier trinkt
und mit ein paar Klaren nachspült.
Ich hatte ihn auch nie zuvor in der Stadt gesehen.
Ich lernte ihn in einer Kneipe kennen.
Es war irgendwann Mitte der Neunziger.
Wir saßen an der Bar, tranken uns in einen langweiligen Abend,
wie wir das jeden Tag machten.
Kleinstadtabende waren noch nie aufregend.
Es war still.
Keiner sagte etwas.
Nur das Radio spuckte Runaway Train von Soul Asylum in den sonst leeren Raum.
Plötzlich flog die Tür mit einem mächtigen Hieb auf
und dieser Ostrock-Typ in Jeans stand im Rahmen.
Es war wie in einem dieser alten Westernfilme.
Er blickte kurz durch den Raum,
kam langsam herein
und steuerte den James Bond-Pappaufsteller an,
der da schon seit Monaten stand
und blieb vor ihm stehen.
Die langen dürren Arme in der Beuge geknickt,
die hageren Finger spielten an den Abzügen der beiden Revolver,
die links und rechts an seiner Hüfte in ihren Halftern steckten.
Zumindest für ihn.
In Wahrheit trug er nicht einmal einen Gürtel.
Die ausgewaschenen Bluejeans hingen leblos
über zu dürren Beinen
und hätten ohne die weißen Hosenträger nicht an seinem Leib gehalten.
Er blinzelte,
ging leicht in die Knie und schrie 007 an:
„Zieh, wenn du Mumm hast, Gauner!“
Bond sagte nichts.
Er grinste den Kleinstadt-Cowboy nur an.
„Du sollst ziehen! Oder haste Schiss?“ schrie er.
James blieb still.
„Ich sage es jetzt zum dritten und letzten Mal… Zieh du Schwein!“
Der Pappaufsteller regte sich nicht.
Ruckartig riss der Typ seine Revolver aus den Halftern und schoss.
„BÄMM BÄMM!“
Mit diesen Worten trat der den Aufsteller um,
blies den Rauch aus den Läufen seiner Finger
und steckte die Knarren ein.
Dann wandte er sich an uns:
„Artig! Sonst Kinderbett!“
Er setzte sich zu uns,
kramte eine Tafel Schokolade aus der Innentasche seiner Jeansjacke
und begann, die Stücken gerecht an uns zu verteilen.
Zwischendrin sprach er immer wieder wild gestikulierend mit irgendwelchen Leuten,
die sich im Gebälk der Decke versteckt haben mussten.
Dabei verließ kein Geräusch seinen Mund.
Nur die Lippen bewegten sich.
Hin und wieder grinste er, dann wieder blickte er ernst, drohte in Richtung Himmel,
ruderte mit den Armen.
Und immer wieder galt uns die Aufforderung:
„Artig!“
während er uns die Schokoladenstücken zuschob.
Wir saßen da,
starrten ihn ungläubig an
und warteten auf die Auflösung.
Irgendeine Pointe musste dem doch folgen?!
Aber da gab es keine Pointe, keine Auflösung.
Ein paar Minuten später stand er auf,
ließ einen abfälligen Blick auf James Bond fallen,
der getroffen am Boden lag
und ging ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
Später erfuhr ich,
dass ihn die Freaks der Stadt vor ein paar Wochen nach einer Party zu sich einluden.
Er war reichlich besoffen und sie mischten ihm einen Drogencocktail
auf dem er hängen blieb.
Sie rasierten ihm eine Glatze,
malten sein Gesicht lila an.
So stand er am nächsten Tag auf einer großen Kreuzung
und regelte den Verkehr,
bis ihn die Bullen mit auf die Wache nahmen.
Da nichts weiter gegen ihn vorlag, ließen sie ihn laufen.
Einige Zeit später fiel er immer wieder im Stadtbild auf.
Einmal sah ich ihn mit einem Eimer Kohlen vor dem Brunnen im Park sitzen.
In kurzen Abständen warf ein Stück Kohle ins Wasser.
Ich fragte ihn, was er da macht.
„Feuer machen!“ sagte er,
und ließ die Wasseroberfläche nicht aus den Augen.
„Aber es ist Sommer!“ sagte ich
„Kalt! Feuer machen!“ sagte er
und ich musste irgendwie an Tarzan denken,
der aus dem Dschungel gezerrt wurde
und nun in einer kalten Zivilisation klar kommen musste.
Ohne Sprache, ohne zu verstehen…
Er kam auch ab und zu in die Kneipe und verteilte Schokolade.
Der Aufsteller war inzwischen weg geräumt.
Eines Tages wurde er von einem SEK verhaftet,
als er mit einer Knarre in die Bank ging.
Wie eine Trophäe hielt er sie nach oben,
betrachtete sie staunend und schritt,
beinahe so, als geschehe das alles unbewusst,
zum Schalter.
Dort legte er das Schießeisen auf den Tresen
und sagte mit ruhiger Stimme zu der völlig verängstigten Frau:
„Ich brauche meinen Kontoauszug!“
Dann war er weg.
Jahre war er weg.
Bis gestern.
Ich sah ihn in der Stadt.
Ich erkannte ihn kaum.
Aus dem hageren Langen
war ein dicker Langer geworden.
Er trug noch immer die alten Jeansklamotten und Schnauzbart.
Eine Halbglatze verdrängte den Vokuhila… …
und der Wahnsinn in seinem Blick
ist einer melancholischen Leere gewichen…
aus: Und in mir Weizenfelder, Edition Outbird, Gera 2018.
Alle Rechte beim Verlag Edition Outbird.
Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages und des Autors.
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Der Gedichtband auf der Website des Edition Outbird Verlages.