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The Game

Bernd Ritter

 

»Ob man das, was einem
sowieso gleich gesche­hen wird,
etwas frü­her oder spä­ter wahrnimmt,
inter­es­siert doch die Gesell­schaft nicht.«

Franz Füh­mann, Die Ohnmacht

Die Wär­ter fal­len tot ins Nichts. Er ist schnel­ler als sie. Er ist ver­dammt schnell. Mit die­sen Fin­gern hät­test du Kla­vier spie­len kön­nen, sagt der Bru­der. Der nimmt ihn nicht ernst. Nie­mand nimmt ihn ernst. Ein Zucht­ob­jekt wie der Mozart? – nein danke. Was hatte der von sei­nem Welt­ruhm, die arme Sau. Nix! Der wusste nicht ein­mal davon. Er ist nicht so blöd. Er ist ein Spie­ler, ein Com­pu­ter­spie­ler. Der Beste! Jetzt zum Bei­spiel: Mit einem Klick sprengt er das Eisen­git­ter sei­nes Ker­kers. Schie­ßen konnte er schon immer – und nicht nur am Com­pu­ter, simul­tan sozu­sa­gen, nein, auch rich­tig: Im Gar­ten des Onkels. Da zer­platz­ten die Ketch­up­fla­schen wie Men­schen­köpfe. Das war geil. Bis es lang­wei­lig wurde. Ketch­up­fla­schen sind keine Men­schen­köpfe. Alles nur Täu­schung – wie in sei­nen Spie­len: Die Toten sind nicht wirk­lich tot. Oder wie im Fern­se­hen. Die schau­spie­lern doch nur. Ein­schalt­quote ist alles. Da las­sen sie auch schon mal einen kre­pie­ren – nur so, für die Kamera. Wenn das Bild weg ist, lachen die sich schief. Es gibt keine rich­ti­gen Mör­der und kein rich­ti­gen Opfer, nur Leute, die Mör­der und Opfer spie­len. Von wegen, er ver­wechsle Fik­tio­nen mit der Wirk­lich­keit. Er weiß Bescheid.

Die Todes­schreie der Wär­ter sind unna­tür­lich kurz. Echt Scheiße. Und auch die ver­ro­stete Sperre, die er gerade durch­bro­chen hatte, knarrt so wie ein alter Mann furzt.
Was soll’s: not­hing is per­fect. Sie können’s nicht besser.

2

Das Spiel geht wei­ter. Da muss er schnell sein, die Ant­wort vor der Frage wis­sen, sonst hat er keine Chance. Er läuft durch die Däm­me­rung eines rie­si­gen Gewöl­bes ins Licht. Sein Schat­ten springt wie ein Hund um seine Beine. Drau­ßen bringt der röt­lich-gelbe Son­nen­schein die Häu­ser­wände zum Glü­hen. Fal­len, die sich im Boden vor ihm öff­nen, über­springt er mit Leich­tig­keit. Nur ein­mal bleibt er ste­hen, muss sich ori­en­tie­ren. Seine Feinde lau­ern über­all. Hin­ter den schwar­zen Fen­stern zum Bei­spiel. Er schießt auf Ver­dacht. Tat­säch­lich: Einer der Jungs taucht auf und ver­schwin­det wie­der. Getrof­fen! Der zuckte nicht mehr. Die Zahl der Getö­te­ten blinkt am rech­ten obe­ren Bild­schirm­rand. Er kann zufrie­den sein. Am lieb­sten hätte er noch mehr von denen umge­legt. Man weiß ja nie, ob diese uner­le­dig­ten Fälle nicht wie­der auftauchen.

Er sitzt in sei­nem Zim­mer hoch oben unterm Dach. Die Eltern schla­fen. Sie sind ahnungs­los und stolz auf ihn. Bar­fü­ßig spürt er den har­ten Tep­pich – springt aufs Bett und zieht sich die Decke über den Kopf. Und hockt in einem war­men Bau. Hier fin­det ihn kei­ner; hier kann er verschnaufen.

Bis das Spiel in die näch­ste Runde geht. Es ist noch nicht vor­bei. Ein­mal hat­ten sie ihn doch noch ein­ge­kreist und zurück geschleppt ins Ver­lies. Doch dies­mal soll­ten sie sich wun­dern. Dies­mal würde er nicht klein bei­geben. Dies­mal nicht! Der Gefäng­nis-Direk­to­rin zum Bei­spiel, die­ser kat­zen­äu­gi­gen Hexe mit den Bir­nen­tit­ten, – der würde er am lieb­sten die Spin­nen­fin­ger ein­zeln abschie­ßen. Ihr Raben­ge­krächze ver­folgt ihn bis in den Schlaf: DU ENTKOMMST UNS NICHT! Eine fiese Tante war das. Und ihrem Die­ner, die­ser wat­scheln­den Kröte, wird er beim näch­sten Mal so lange zwi­schen die Augen bal­lern, dass sein Hirn die Wände tapeziert.

3

Dies­mal macht er Ernst! Die näch­ste Runde star­tet. Das Licht des Moni­tors flu­tet über sein Gesicht: die hohe Stirn papier­nen weiß, die Augen tot. Nur die lan­gen Fin­ger leben­dig. Er wird tun, wovon die ande­ren nicht ein­mal träumen.

In Sprün­gen über­quert er den Platz, wo die Stra­ßen­bah­nen sich kreu­zen und biegt in eine Neben­straße ein. Nie­mand soll ihn bemer­ken. Er stellt sich vor, wie er der Bir­nen­tit­ten­hexe begeg­net. Er wird sie auf den Boden zwin­gen, das Gesicht nach unten, die Waffe im Genick. Das wird ein Spaß. Lang­sam wird er mit dem kal­ten Lauf ihren Rock nach oben schie­ben, bis sie vor Angst und Scham zu wim­mern beginnt und Was­ser lässt. Er schließt die Augen und ein seli­ges Lächeln huscht über sein Gesicht. Er ver­steckt sich in einem Gebüsch und war­tet, bis es still gewor­den ist. Dann schleicht er wie ein Raub­tier in den mäch­ti­gen Bau. Plötz­lich steht ein klei­ner Junge vor ihm. Er wolle Pipi machen. Und nimmt plötz­lich Reiß­aus. Da bekommt er eine furcht­bare Wut auf den Schis­ser. Und springt ihm nach und packt ihn bei den Schul­tern und schlägt ihn drei­mal an die Wand. Dann lauscht er in die Stille.

Der Junge rührt sich nicht mehr. Was soll’s. Der wird schon wie­der. Das ist nun mal kein Spiel für Angst­ha­sen. Er kramt die Pistole her­vor, schiebt ein paar Maga­zine unter den Pull­over und tritt ent­schlos­sen ins Licht. Im Vor­ge­fühl der Rache leuch­ten seine Augen. Laut­los schnellt er die Treppe empor. Und sieht sich um. Wie ein Jäger ist er: beherrscht und kon­zen­triert. Kein Zit­tern und keine Atem­not. Die Tür zur Bir­nen­tit­ten­hexe rührt sich nicht, ist ver­schlos­sen! Er lauscht, um irgend­et­was auf­zu­schnap­pen, viel­leicht einen Schritt, viel­leicht ein Geräusch. Nichts.

4

Seine Augen wer­den zu schwar­zen Punk­ten. Er krümmt sich zusam­men und springt gegen das Hin­der­nis. Das stöhnt, hält aber stand. Da schreit er aus allen Kräf­ten und springt noch ein­mal. Nun split­tert das Holz und er stürzt in den Raum. Der ist ver­las­sen! Wie ein getrof­fe­nes Tier heult er auf. Das dau­ert nicht lange, dann hat er sich wie­der im Griff: Ver­kro­chen wird sie sich haben, doch sie ent­kommt ihm nicht! Da ist sie! Er schießt ihr ins Gesicht, bevor sie etwas sagen kann. Sie lächelt ungläu­big – dann ist sie tot. Es ist so leicht, denkt er.

Plötz­lich ent­steht Lärm. Das Grol­len schwillt an. Er hätte es wis­sen müs­sen: Die Bir­nen­tit­ten­hexe hat tau­send Leben! Sie ist über­all! Rasend schießt er um sich. Geöff­nete Mäu­ler schla­gen wie von Eisen­fäu­sten getrof­fen auf den Boden auf. Wie viele Arme sie hat, staunt er. Sie ist wirk­lich ein Unge­heuer. Und noch immer leben­dig. Unzäh­lige Beine sprin­gen wie Batail­lone von Rat­ten über die lie­gen­den Kör­per­teile hin­weg, die Flure ent­lang, die Trep­pen hinab, hin­aus auf den Hof. Einige blei­ben tot­ge­tre­ten zurück. »Wo kommt denn das viele Blut her?« Er reißt die Bluse von einem Stück toten Lei­bes und rei­nigt sich die Hosen. Erfüllt von stol­zem Ekel.

Unten auf der Straße sind ziem­lich viele Men­schen ver­sam­melt. Was ist da los? Ein Unfall? Autos sto­ßen hupend inein­an­der. Er hört Stim­men von unten her. Eine Tür geht quiet­schend auf. Im Licht steht ein Schat­ten. Wie das Männ­chen auf der Schieß­scheibe, denkt er. Das Männ­chen sieht ihn nicht. Es geht nicht ein­mal in Deckung. Stumm sackt es zu Boden.

Als es wie­der still ist, hat er den Wunsch, sich aus­zu­ru­hen. Heim­weh packt ihn. Am lieb­sten würde er nach Hause gehen. Plötz­lich steht eine schwarze Gestalt vor ihm. Er müsste schie­ßen, doch irgend­et­was hält ihn zurück. Er geht wei­ter, an dem Mann vor­bei, der ihn stumm pas­sie­ren lässt. Das wun­dert ihn. Kennt er mich denn nicht, fragt er sich. Irgend­wie fühlt er sich beleidigt.

5

Da stößt ihn eine Faust in ein Zim­mer hin­ein. Die Faust des Krö­ten­manns! Wie­der hat­ten sie ihn gefangen!

Er schaut aus dem Fen­ster auf die Straße hinab. Men­schen lau­fen wie schwarze Flie­gen durch­ein­an­der. Ein eigen­ar­ti­ges Sum­men dringt zu ihm her­auf. Ein­ge­schlä­fert von der Mono­to­nie die­ses Geräu­sches und betäubt von der Schwüle des Nach­mit­tags schließt er die Augen. Eine unbe­schreib­li­che Leich­tig­keit ergreift ihn, als wüsste er um ein Geheim­nis, das nie­mand erra­ten wird.

Plötz­lich spürt er, wie Pisse seine Beine hin­ab­läuft. Klei­ne­jun­gen­pisse. Da ist ihm, als habe er etwas Unan­stän­di­ges getan. Er hebt, ohne nach­zu­den­ken, die Pistole an seine Schläfe und krümmt den Fin­ger. Sein Kopf schlägt gegen etwas Har­tes, und wäh­rend das Blut aus der Wunde schießt, sinkt er in fin­stere Tiefe.


Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Autors. Alle Rechte beim Autor.

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