Wolfgang Haak
Ein Panoptikum der Gebrechlichkeiten schlurft immer um die Brunnenschale herum. Zunächst meine Jugendliebe, heute eine Greisin mittleren Alters, eingehüllt in eine Decke. Ihre Kusshand verfehlt zunächst den eigenen Mund und dann mich, das Ziel. Einem Kurgast laufen die Tränensäcke über angesichts der Behandlungskosten. Darüber können zwei Raucherbeine mit Entzugserscheinungen nur lachen, immer um den dünnen Strahl des Heils herum. Vergangene Zeiten überholen sich im Rollstuhl und zählen ihre Krankheiten an Fingerstümpfen ab. Unterm Lidstrich flattern noch die Flügel eines alt gewordenen Eros. Füttern verboten. Die Barmherzigkeit legt den Kittel ab und schiebt auch mich im Kreis herum. Bleiben noch die Jammergestalten in ihren Bademänteln, Schlappen an den Füßen, Hände in den Taschen, die Schrecken der Hausordnung. Jeder von ihnen spricht nur, um sich selber zuzuhören. Jetzt ist Damenwahl. Die Kurkapelle spielt einen Walzer und plötzlich fangen alle Leiden an zu tanzen, immer um die Brunnenschale herum. Den Seinen gibt der Herrgott eine Kur.
aus: Bagatellen, Opus Nro III, Prosaminiaturen, Edition Ornament Bd. 5, hg. Jens-Fietje Dwars, Bucha bei Jena, 2008, quartus-Verlag.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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