Johannes Lange
(Deborah I)
Nach dem Frühstück renne ich in mein Arbeitszimmer, schmeiße den PC an, öffne das letzte Kapitel von „Der Teufel würde heulen 2“ und meine Finger sind ein Orkan über der Tastatur. Letzte Nacht bin ich aufgewacht. Meine Frau schlafend neben mir und ich schweißgebadet und die Augen weit aufgerissen, aufrecht im Bett sitzend. Alles war klar. Alles war schlüssig. Ich markiere das gesamte Kapitel. Drücke Entf. Beginne von vorn und weiß, dass es gut wird. Großartig wird. Während ich schreibe, denke ich bereits über die Rede für die Preisverleihung nach. Normalerweise arbeite ich an einem Samstag nicht. Aber wenn es so drückt, wie heute, dann mache ich eine Ausnahme. Ich habe einen herrlichen Schriftstellerorgasmus. Die Worte sprudeln aus meinem Gehirn in meine Fingerspitzen, ich denke gar nicht mehr darüber nach, was ich schreibe, ich schreibe einfach nur noch. Die Krönung meiner Arbeit. Wie eine Erleuchtung, ich befinde mich nicht mehr in meinem Haus, in meinem Arbeitszimmer. Während ich schreibe, stehe ich nicht mehr über meinen Figuren, ich stehe neben Caro und dem Erzähler in diesem Bunker und wir betrachten die riesige Sicherheitstür, die in den letzten, in den Prototypenraum führt. Wir wissen: dahinter steht die Nemesis. Dahinter haben sie den Vater des Landes, den ersten Klon in Fesseln gelegt. Und wir wissen: wir haben nur eine Chance, den Adam zu töten. Eine Granate, mehr bleibt Caro und dem Erzähler, mehr bleibt uns nicht. Es gibt kein Zurück mehr und es gibt nur einen Weg nach vorn. Ehrfürchtig betrachten wir diese letzte Stahlplatte vor dem Ende. Vor unserem und dem des Krieges. Der Erzähler zieht die gestohlene Schlüsselkarte durch den Schlitz. Die Tür fährt nach oben auf. Dahinter steht meine Frau und fährt mich an: „Wann kommt denn jetzt endlich die Lichterkette vom Baum?“ Aus. Vorbei. Alles verloren. Wegen fünfzig Glühlampen, mit denen meine Frau unsere kleine Tanne im Garten weihnachtlich gestaltet hatte. Ich speichere ab und folge meiner Frau in den Garten. Auf dem Weg nölt sie: „Seit zwei Monaten ist Weihnachten vorbei und bei uns leuchtet immer noch jede Nacht der Baum. Was denkst du, was die Nachbarn von uns sagen. Der Kravitz glotzt schon seit einer Woche ganz blöd.“ Ich sage: „Ach, der ist mir doch egal. Wegen mir kann die Kette das ganze Jahr lang leuchten.“ „Ja.“, sagt meine Frau. Meine Frau sagt: „Wegen dir müsste man auch nie Staub wischen.“ „Das hab ich nicht gesagt!“ „Aber bestimmt gedacht!“, stichelt meine Frau. „Jetzt hol die Leiter und mach das Ding ab.“ Ich frage: „Wo ist der Große? Ich krieg das alleine nicht hin.“ „Der ist bei seiner Freundin.“ „Wie, Freundin?“, frage ich. Ich frage: „Seit wann hat der eine Freundin?“ Meine Frau sagt: „Keine Ahnung.“ Sie sagt: „Er hat mich gestern gefragt, ob er heute seine Freundin zum Mittagessen einladen kann.“ Dann sagt sie noch: „Und bis zum Mittag ist das Ding da weg.“ Meine Frau sieht sich das junge Tännchen an. „Was soll denn das Mädchen denken, wenn sie so eine Schlamperei sieht?“, sagt sie und geht nach drinnen. Ich ziehe ein Kinn und gehe die Leiter holen. Baue sie neben der Tanne auf. Klettere nach oben. Friere und klettere wieder nach unten. Hole mir meine Jacke. Klettere wieder nach oben. Sehe mir das ganze an. Die Lichterkette ist um den gesamten Baum gewickelt. Damit sie sich nicht löst, wurde sie straff um einzelne Äste geknotet. Ich versuche, einen solchen Knoten zu lösen und steche mich an den Nadeln. Der Kleine kommt und schaut von unten zu seinem Vater hinauf. In seinem dicken Anorak sieht er unförmig und wie eine Tonne aus. „Was machst du denn?“ „Die Scheiße hier wegmachen.“ „Aha“, sagt er und geht, um allein Fußball zu spielen. Ich kümmere mich wieder um den Knoten und zersteche mir meine zarten Tippfinger. Leise fluchend balanciere ich auf der wackligen Leiter und fistele an dem Kabel herum. Von unten höre ich den Kleinen sein eigenes Spiel kommentieren: „Und er ist ganz alleine, weil seine Mannschafskollegen zu richtigem Fußball zu inkompetent sind. Ganz allein mit dem Ball stürmt er aufs Tor“, schreit der Kleine. Ich habe den ersten Knoten gelöst und muss mich strecken, um den nächsten zu erreichen. Von unten der Kleine: „Jetzt steht es ölf gegen einen, meine Damen und Herren, ölf gegen einen und es sieht so aus… Jaaaaa… Er geht vorbei, stürmt in den Strafraum, die Abwehr völlig machtlos, ohnmächtig müssen sie mit ansehen, wie er sie alle umspielt, ausspielt, meine Damen und Herren. Und jetzt… Ja, er schießt!“ Der Kleine zieht ab. Der Ball kracht gegen die Leiter und springt an der Tanne vorbei. Der Kleine brüllt: „Pfostentor!!!“, und ich stürze in die Nadeln der Tanne. Ich schnauze den Kleinen an und nehme ihm den Fußball weg. Dann klaube ich mir die Nadeln aus dem Fleisch und gehe nach drinnen zu meiner Frau. „Schon fertig?“, fragt sie vom Herd aus. „Nee, das wird so nichts. Alleine geht das nicht. Wo ist denn jetzt der Große?“, frage ich. Meine Frau sagt: „Zum fünften mal: Der ist bei seiner Freundin und kommt nachher.“ Sie droht: „Und du wirst ihn nicht anrufen und herholen.“ Ich sage: „Dann muss ich bis Nachmittag warten, wenn der wieder da ist.“ „Vergiss es“, zischelt meine Frau. Meine Frau faucht: „Dann hol dir jemand anderen.“ Also rufe ich Andreas an. Andreas ist Diplomphysiker und wird wissen, wie man eine Lichterkette richtig abbaut. Er ist sofort bereit, mir zu helfen. Im Hintergrund höre ich noch seine Frau ins Telefon rufen: „Dann könnt ihr gleich noch unseren Weihnachtsbaum entsorgen!“, bevor er auflegt. Nach zehn Minuten steht Andreas vor der Tür. Auf seinem Passat festgebunden liegt ein brauner, kahler Weihnachtsbaum. In den Händen hält er Axt und Säge. „Also, wo ist der Baum?“, fragt er. Ich sage: „Wir wollen den aber nicht abreißen.“ „Ich dachte?“, sagt Andreas. „Nein, nein. Nur die Lichterkette abmachen.“ „Achso. Dann lass uns erst mal meinen Baum in den Garten räumen.“ Wir stellen uns links und rechts von seinem Wagen auf und lösen die Spanngurte. Dann packen wir die Äste der Nordmanntanne an und zerren. Schmerz durchzuckt meine Handfläche und Andreas flucht laut: „Ach, Scheiße!“ Wir packen anders an, versuchen, die braunen Nadeln beim Anfassen glattzustreichen. Nach fünf Minuten beschließen wir, lieber Handschuhe anzuziehen. Gerade, als wir wieder links und rechts des Wagens stehen, uns strecken und an dem Baum zerren, ruft der Große vom Ende der Straße: „Der Physiker und der Autor versuchen zu arbeiten! Das kann ja nichts werden.“ Wir zerren weiter an dem Baum. Der Stamm schlägt dabei eine tiefe Delle in Andreas‘ Autodach. „Komm, quatsch hier nicht rum und hilf uns!“, sage ich. Andreas sagt: „Große Klappe, aber Hauptsache die Freundin dabei.“ Der Große stellt mich seiner Freundin, einem schüchternen blonden Mädchen, vor. Dann sagt er, er könne nicht helfen. „Ich hab schließlich Damenbesuch“, sagt der Große und schließt die Haustür auf. Bevor er verschwindet ruft er uns noch zu: „Versucht doch mal, das Teil zu zersägen!“, und ich bin stolz auf meinen klugen Sohn. Andreas und ich setzen also Säge und Axt an und zerteilen den Stamm sauber auf seinem Autodach. Nachdem wir alle Einzelteile in eine Ecke der Einfahrt geschmissen haben, betrachten wir die Schrammen, Löcher und Dellen auf seinem Passat. „Nur damit wir uns nicht widersprechen“, intrigiert Andreas, „wenn meine Frau fragt, hat es gehagelt, als ich bei dir war.“ Dann gehen wir in meinen Garten und betrachten unsere kleine Tanne. Ich sage: „So, das Zeug muss alles runter.“ „Wollt ihr das nächstes Jahr nochmal aufhängen?“, fragt Andreas. Ich sage: „Ja“, und Andreas sagt: „Achso. Sonst hätte ich einfach gesagt, wir zerschneiden das Kabel und kaufen eine neue Kette.“ Im ersten Moment finde ich den Vorschlag nicht schlecht. Als ich aber meine Frau nach der Gartenschere frage und auf ihre Nachfrage erkläre, wofür ich sie brauche, verbietet sie uns ausdrücklich, die Kette zu zerschneiden. Dann fragt sie noch: „Und überhaupt: Was dauert denn da so lange?“, und die Mittlere, die in der Küche die Zeitung liest sagt noch: „Letztes Jahr habe ich eine halbe Stunde dafür gebraucht.“ Ich sage: „Schweig!“, und gehe wieder nach draußen zu Andreas. Der hat inzwischen die Leiter wieder aufgestellt und hält sie fest. Ich klettere nach oben. Mache mich wieder an den Knoten zu schaffen. Andreas hält die Leiter in seinem Schraubstockgriff. Ich fühle mich sehr sicher. Zwei Knoten lösen sich so auch einfach. Beim dritten muss ich mich wieder weit nach links beugen und die Arme ausstrecken, um ihn zu erreichen. Ich sage: „Hältst du?“ „Warte mal, das geht so nicht.“, sagt Andreas. Ich sehe nach unten, strecke mich noch weiter nach links und sage: „Halt die Leiter fest.“ Andreas stellt sich breitbeiniger und ruft: „Du lehnst dich zu weit nach links!“ Ich lehne mich noch weiter und greife den Knoten mit der linken Hand. „Halt fest!“, rufe ich. Andreas lehnt sich nach rechts und zerrt an der schwankenden Leiter. „Das kippt!“, schreit er. Ich schreie: „Halt fest!“ Andreas schreit: „Vorsicht!“ Ich stürze in die Tanne. Verheddert in Kabeln, gehalten von Ästen und durchbohrt von Nadeln sehe ich auf der Terrasse die Mittlere, den Großen, seine Freundin und meine Frau lachen. Zu allem Überfluss ruft meine Frau noch: „Ihr Heinze!“ Ich rappele mich wütend wieder auf, entferne weitere Nadeln. Ich spüre, dass mir eine Nadel in die Nase gerutscht ist und versuche, sie auszurotzen. Es klappt nicht. „Warum hast du nicht gehalten?“, fahre ich Andreas an. Andreas fährt zurück: „Du kannst dich doch nicht so weit beugen.“ „Doch“, sage ich, „wenn du richtig halten würdest.“ „Du hattest überhaupt keinen Stand“, sagt Andreas. Er sagt: „Du hast oben total gewackelt, das konnte ich nicht mehr halten.“ Dann setzen wir uns mit einem Blatt Papier in die Küche und stellen Berechnungen an. Wir schreiben auf, wie viel ich wiege und welcher Hebel auf die Leiter wirkt, wenn ich in einem 30°-Winkel nach links gebeugt auf der obersten Sprosse stehe. „Nee“, sage ich. Ich sage: „Auf die Oberste traue ich mich nicht, ich steh höchstens auf der Vorletzten.“ Andreas streicht alle Rechnungen wieder durch und wir setzen neu an. Meine Frau sagt vom Herd aus: „Ach klar, macht erst mal Pause. Gearbeitet ist dann schnell.“ Sie fragt: „Soll ich euch noch ein Bier bringen?“ Ich weiß schon, was ich jetzt nicht antworten darf. Andreas kennt meine Frau nicht gut genug und sagt: „Ach, eins kann ich trinken, wenn ich fahre, oder?“ Meine Frau verlässt den Platz hinterm Herd und treibt uns mit dem elektrischen Quirl wieder nach draußen. Dort stehen wir ratlos vor der Tanne mit der Lichterkette. „Das müssen wir anders machen“, sagt Andreas. Wir wissen aber nicht, wie. Wir beraten, ob wir vielleicht erst die unteren Knoten lösen sollen, die wir ohne Leiter erreichen können. „Früher oder später müssen wir aber auf die Leiter“, sage ich, „und dann haben wir wieder nur Ärger.“ Andreas sagt: „Lass uns mal googlen, wie man so eine Kette abbaut.“ Wir googlen mit unseren Handys, finden aber nichts Richtiges. Andreas entdeckt bei Amazon eine Lichterkette, die sich übers WLAN an- und ausschalten lässt. Ich finde ein Forum, in dem es nur um Lichterkettentuning geht. An ein Tutorial fürs Abbauen scheint noch niemand einen Gedanken verschwendet zu haben. Es gibt nur lauter verzweifelte Ehemänner, die sich beschweren, dass es im Internet keine Anleitung zum Lichterkettenabbauen gibt. Während ich verzweifelt im AppStore nach einer iPhone-App suche, die beim Lichterkettenabbau helfen könnte, kommt unser Freund Felix um die Hausecke. Wir begrüßen ihn und er erklärt: „Ich musste mal raus. Jetzt, wo ich kein Holz mehr hacken muss, langweil ich mich zu Tode!“ Dann zeigen wir ihm unser Problem und Felix sagt: „Warte mal, mein Bruder hat eine Hebebühne, die braucht der heute nicht.“ Er zieht sein Handy und ruft seinen Bruder an. Wir lauschen gespannt. Nach ein paar Worten legt er auf und sagt: „Jap, die können wir abholen.“ Also setzen wir uns in Felix‘ Auto und fahren zu seinem Bruder. Der zieht gerade die Hebebühne aus seinem Schuppen. „Da müsst ihr aber aufpassen“, sagt er, „das Ding ist uralt.“ Felix‘ Bruder sagt: „Ich bin damit schon umgekippt.“ Er fährt die Bühne aus und sagt: „Hier ist mir schon was rausgebrochen.“ Dabei zeigt er auf ein mit Holz und Duct-Tape geflicktes Element des Arms. Felix sagt: „Jaja, wir passen schon auf“, und wir helfen ihm, die Bühne an seiner Anhängekupplung zu befestigen. Der Bruder steht daneben. „Ach ja, hier.“ Er reicht uns ein Stück Draht und sagt: „Das ist mir mal abgerissen.“ Felix‘ Bruder sagt: „Das müsst ihr hiermit festmachen.“ Felix wickelt den Draht um seine Anhängekupplung und den Rest der Kupplung der Bühne. Dann verabschieden wir uns und fahren los. Unterwegs reißt die Hebebühne zweimal ab. Einmal kracht sie gegen einen Laternenpfahl, der der Stadt gehört. Wir beschließen, den Schaden nicht zu melden und hoffen, dass keiner gesehen hat, was geschah. Als sie das zweite Mal abreißt, sind wir schon bei meiner Einfahrt. Felix hat das Steuer wohl zu stark eingeschlagen. Die Bühne löst sich vom Auto, als wir gerade in die Einfahrt einbiegen wollen. Wir sehen nur noch, wie sie durch Kravitz‘ Gartenzaun kracht. Holzsplitter fliegen durch die Luft. Der ganze Zaun wackelt bedrohlich. Als wir aussteigen, rennt der Nachbar schon zum Unfallort. „Also das ist doch…!“, ruft er laut. Wir betrachten das Loch in der Holzwand. „Ist das jetzt ein neuer Sport?“, ruft der Kravitz. Der Kravitz ruft: „Hebebühnenkegeln, oder wie?“ Andere Nachbarn treten an ihre Zäune und sehen zu uns. Ich sage: „Nein nein, wir wollten nur unsere Lichterkette abbauen“, und erkenne gleich, wie dumm das klingt. „Die ist uns abgerissen“, sage ich noch und Felix stößt mir den Ellenbogen in die Rippen. „Ihre Haftpflichtversicherungsnummer?“, sagt Kravitz und Andreas sagt: „Ich bitte Sie, das ist doch nur ein Zaunelement, das ersetzen wir Ihnen so.“ „Ihre Haftpflichtversicherungsnummer?“, sagt der Kravitz jetzt mit Nachdruck und ein Nachbar ruft: „Die war ja gar nicht richtig festgemacht!“, und zeigt auf Felix‘ Anhängerkupplung und die Drahtreste, die noch daran hängen. Der Kravitz trottet zum Auto und sieht sich das Ganze an. Wir trotten hinterher und reden beschwichtigend auf ihn ein. Felix sagt: „Da geben wir Ihnen mal hundert Euro und dann hat sich das, das ist doch nicht so schlimm.“ Aber der Kravitz hört gar nicht hin. Grinst nur hämisch. Sagt: „Ooh, das wird teuer.“ „Ach, jetzt kommen Sie, wir bauen Ihnen das Element auch ein“, sagt Andreas. Ich sage: „Da müssen wir doch jetzt nicht so einen Aufstand machen“, aber der Kravitz erwidert nur: „Ihre Haftpflichtversicherungsnummer?“ Ich gehe ins Haus und suche nach den Unterlagen. Meine Frau erwischt mich natürlich und ich muss mich erklären. Erwarte ein Donnerwetter. Aber sie schüttelt nur traurig den Kopf, sagt resigniert: „In fünf Minuten gibt’s Mittag“, und verlässt den Raum. Nachdem sich der Kravitz meine Nummer notiert und noch einmal selbstgefällig das zerstörte Zaunelement betrachtet hat, gehe ich zurück zur Tanne, wo Felix und Andreas bereits die Füße der Hebebühne ausfahren. Das ganze sieht ordentlich aus. So, als ob es was werden könnte. Wir haben die Bühne mit der Längsseite zum Baum aufgestellt. Felix hat gesagt, dann könnten zwei von uns drauf und gleichzeitig abbauen. Felix hat gesagt: „Da geht es schneller.“ Also klettern Felix und ich auf die Plattform und Andreas fährt uns nach oben. Es ist recht laut und manchmal hören wir es im Gestänge unter uns knacken. Einmal klingt es, als ob Metall zerreißt und Andreas hält kurz an. Schließlich sind wir aber auf Höhe der Tannenspitze und beginnen, uns an den Knoten zu schaffen zu machen. Felix sagt: „Welcher Idiot hat das denn festgeknotet.“ „Meine Frau“, sage ich und Felix sagt: „Naja, ist ja nicht so wichtig.“ Andreas ruft von unten: „Ich hab auch schon gesagt, dass man das mit Klammern festmachen muss.“ „Quatsch, Klammern, ihr habt alle keine Ahnung“, sagt Felix und von weitem hören wir den Kerp rufen: „Was is’n hier los?“ Felix und ich sehen nach unten. Neben Andreas steht Dr. phil. Kerp, Master of Arts der Ur- und Frühgeschichte, und grinst zu uns nach oben. „Ihr wollt wohl Lichterketten abbauen?“, fragt er. Wir sagen ja und ich erkenne im Augenwinkel, wie die Mittlere drinnen die Augen verdreht, als sie den Kerp erkennt. Sie kann ihn nicht mehr leiden, seit sie mich in seiner Anwesenheit einmal nach einem Schirm gefragt hat. Der Kerp hat gesagt: „Wozu braucht denn eine Frau einen Schirm, zwischen Schlafzimmer und Küche regnet’s doch nicht.“ Und die Mittlere ist ohne ein Wort aus dem Raum gestürmt und ignoriert seitdem jedes Angebot, Herrn Dr. Kerp duzen zu dürfen. Der Kerp sagt jetzt: „Die Bühne sieht aber nicht mehr sehr neu aus“, und zeigt auf das mit Holz geflickte Element. Felix sagt: „Das hält schon“, und Andreas und ich nicken zuversichtlich. Dann kümmern wir uns wieder um die Knoten und Andreas legt dem Kerp dar, wieso wir eine Hebebühne und keine Leiter verwenden. Als wir gerade so richtig schön in Schwung sind, jeder von uns bereits fünf Knoten gelöst, die Hände zwar zerstochen, aber fleißig weiter knibbelnd, ruft meine Frau „Mittag!“ Ich rufe zurück: „Jetzt nicht, nachher!“ Meine Frau ruft: „Mittag!“ Ich rufe zurück: „Nein!“, und meine Frau geht wieder rein. Wir arbeiten draußen weiter. Es geht ganz gut. Nach zehn Minuten sind wir auf der obersten Ebene fertig und Andreas fährt uns ein Stück nach unten. Es kracht ordentlich und der Motor heult auf. Die Plattform schwankt und zittert und der Kerp ruft: „Das explodiert!“, und macht einen großen Satz nach hinten. Andreas drückt weiter auf den Abwärtsknopf und der Motor wird immer lauter. Die Bühne senkt sich kein Stück, beginnt jetzt aber zu qualmen. Felix ruft: „Hör auf, hör auf!“ Dunkelblauer Rauch steigt auf. Andreas rennt davon. Der Kerp ruft von weitem: „Runter da!“ und Felix ruft: „Das bricht zusammen!“ Ich schreie: „Weg!“ Die Bühne fängt Feuer. Irgendwo unter uns platzt etwas in einem Feuerball. Flammen schlagen nach oben. Öliger Qualm hüllt uns ein. Geistesgegenwärtig schwingen Felix und ich über das vom Baum abgewandte Geländer. Wie zwei James Bonds bringen wir uns mit einem Stunt vor der Explosion in Sicherheit. Der Motor der Hebebühne fängt Feuer und die Flammen breiten sich rasend schnell aus. Irgendwo unter uns hören wir den Apparat zerbersten. Nun ist es in solch einer Extremsituation oftmals so, dass man die Gesetze der Physik gern vergisst. Wenn das eigene Leben in Gefahr ist, wenn man an der Gurgel bereits die kalte, schartige Sensenklinge spürt, dann denkt man nicht mehr daran, dass 160 Kilogramm pendelnde Masse auf der Kante einer ausgefahrenen, explodierenden Hebebühne mit provisorischem, brennenden Holzgestänge keinesfalls im Sinne des Erbauers derselben liegen können. So wundere ich mich nicht, dass die Holzlatte überrascht ächzt, sagt: „Nicht mit mir“, und einfach zerbricht. Der Arm der Hebebühne knickt ein. Metall verbiegt sich. Zwei Männer stürzen auf die harte Erde. Auf ihnen landen einige Metallteile, unter anderem die Plattform der Maschine. Andreas ruft: „Ach du Scheiße!“ Meine Familie und das fremde Mädchen standen zu diesem Zeitpunkt glücklicherweise am Fenster, in der Hoffnung, etwas Sensationelles würde passieren. So können uns Andreas, der Kerp, meine Frau und der Große schnell befreien und vor einem Erstickungstod in der Stahllawine bewahren. Wir löschen die Flammen mit einer Eimerkette und stehen dann ratlos vor dem Häufchen Stahl. Felix sagt: „Scheiße.“ Er sagt: „Mein Bruder killt mich“, und der Kerp erwidert: „Nee, dein Bruder hätte dich fast gekillt.“ „Das kann doch nicht so schwer sein, mit so einer bekloppten Lichterkette!“, rufe ich. Ich rufe: „Das kann doch nicht sein, 4 gestandene Männer!“ „Naja“, sagt meine Frau, „Wir gehen wieder rein.“ Und meine Familie geht wieder ins Haus. Wir Männer bleiben vor den Trümmern stehen und fühlen uns elend und allein. Hilflos sehen wir zu der Tanne, sehen zu der Lichterkette, die wie zum Hohn plötzlich aufleuchtet. Der Kleine und die Mittlere haben den Strom angeschaltet, um sich über uns lustig zu machen. Ich habe nicht mehr die Energie, sie deswegen zu rügen. Schalte nur den Strom wieder ab. Sage nichts mehr. Der Kerp bietet uns reihum Zigaretten an. „Erstmal eine rauchen“, sagt er und wir sagen ja. Der Kravitz kommt zu uns, sieht sich die Trümmer an. „Na, jetzt haben sie’s wohl geschafft?“ Wir stehen stumm und blicken auf die Hebebühnenreste. „Ich hab’s vom Fenster gesehen“, sagt der Kravitz. Wir stehen stumm. Der Kravitz sagt: „Vielleicht kommt Weisheit bei manchen Menschen doch nicht im Alter.“ Wir sagen nichts. Der Kravitz sieht zur Lichterkette und sagt: „So ein Elend aber auch. Meine ist schon lange ab.“ Wir rauchen still. „Naja, ich hab jedenfalls nicht den ganzen Tag Zeit“, sagt der Kravitz und dreht sich zum Gehen. Felix zischt: „Ich hau ihm in die Fresse!“ Wir nicken zustimmend. Als wir die Zigaretten ausgedrückt haben, setzen wir uns in die Küche. Trinken ein Bier. Überlegen, was zu tun ist. Eine Stunde lang diskutieren wir hin und her. Die Tanne fällen ist so wenig eine Option wie die Lichterkette zerschneiden. Felix schlägt vor, die Äste abzuschneiden und im Winter, wenn die Kette wieder angebracht wird, einfach wieder anzuschrauben. Wir lehnen ab, weil wir keine Möglichkeit sehen, Gewinde in den Stamm der Tanne zu drehen, ohne dass das Holz splittert. Andreas schlägt vor: „Man könnte doch eine neue Tanne kaufen, die alte ausgraben und die neue pflanzen.“ Der Kerp, der des Berufs wegen viel ausgräbt, horcht auf: „Eine neue kaufen brauchen wir gar nicht.“ „Warum?“, fragt Felix. Der Kerp, jetzt ein Dr. phil. mit leuchtenden Augen, sagt: „Wir graben die einfach wieder ein, wenn die Kette runter ist.“ „Nein!“, sage ich und denke dabei an meine Frau. Ich sage: „Wir graben die Tanne nicht aus.“ Andreas sagt: „Aber da ist doch nichts dabei. Mit Wurzeln und allem, das stört ja gar nicht.“ Der Kerp sagt: „Wir wässern die schön und graben sie wieder ein.“ Felix sagt: „Das merkt man hinterher gar nicht mehr, dass die mal raus war.“ Ich denke an meine Frau und sage: „Nein!“ Zehn Minuten später bekommen wir Ärger. Meine Frau überrascht uns, als wir im Gänsemarsch zum Baum laufen, die Spaten auf den Schultern. Sie sieht die Spaten und begreift sofort. „Das könnt ihr vergessen!“, ruft sie, als wir die Tanne noch nicht erreicht haben. Ich sage: „Lass uns nur mal machen.“ „Nein!“, sagt sie. Meine Frau sagt: „Das könnt ihr gleich vergessen, geht weg mit den Spaten.“ Der Kerp flüstert mir ins Ohr: „Soll ich sie bewusstlos schlagen? Wenn sie aufwacht, steht der Baum längst schon wieder.“ Ich mache eine Handbewegung, die sagt: Nachher, lass es mich erst einmal im Guten probieren. Ich erkläre meiner Frau unseren Plan. „Den Baum hat uns mein Bruder zum Richtfest geschenkt! Der wird nicht ausgegraben.“ Der Kerp schleicht sich hinter meine Frau. Ich sage: „Aber wir buddeln ihn doch wieder ein.“ Der Kerp hebt die Schaufel. Meine Frau bemerkt nichts. „Ihr könnt doch einfach die Lichterkette abmachen und gut!“ Der Kerp holt weit, weit aus. Ich sage: „Ach was, es sind doch nur zehn Minuten, die er draußen ist. Das ist doch keine Arbeit.“ „Herrgott, das ist doch albern, wegen so einer Lappalie!“, sagt meine Frau. Sie dreht sich zum Kerp um und sagt: „Komm, Kerp, mach dich nicht lächerlich.“ Ich sage: „Du siehst doch, dass wir’s nicht hinkriegen“, und der Kerp lässt den Spaten sinken. „Manchmal frage ich mich…“, hebt meine Frau an, bringt den Satz aber nicht zu Ende. Wir beginnen das Graben. Wir schaufeln. Ständig stellen wir fest, dass wir das Loch vergrößern müssen, weil sich die Wurzeln stark ausgebreitet haben. Andreas holt seine Axt, aber ich verbiete, die Wurzeln zu durchschlagen. Trotzdem machen sie es heimlich, wenn ich nicht hinsehe. Unsere Hände bekommen Blasen, die aufplatzen. Die Spatenstiele werden nass von Blut und Schweiß. Trotz der Kälte draußen ziehen wir unsere Jacken aus. Irgendwann kommt der Kravitz vorbei, aber wir reagieren nicht auf ihn, sodass er schnell wieder abzieht. Nach drei Stunden haben wir die Wurzeln freigelegt. Der Baum wird jetzt von nichts mehr gehalten. Wir beglückwünschen uns schwer atmend und Felix tritt gegen den Stamm. Der Kerp ruft: „Timber!“ Andreas wird unter Tannenästen begraben. Wir lösen alle Knoten. Meine Frau, der Große und seine neue Freundin sehen uns kopfschüttelnd zu. Dann rollen wir den Baum wie eine leere Tonne durch den Garten, sodass am Ende des Grundstücks die gesamte Lichterkette im Gras liegt. Schließlich setzen wir Äxte und Sägen an, weil Felix vorgeschlagen hat, lieber lauter handliche Stückchen, als den ganzen schweren Baum zurück zum Loch zu tragen. Meine Frau schreitet rechtzeitig ein. Als es bereits dämmert, steht unsere Tanne wieder an ihrem Platz. Das Loch ist geschlossen. Der Baum breitet seine Äste aus. Noch etwas geknickt und verwirrt, aber man sieht, dass er sich wohl fühlt, so ganz ohne die lästige Fessel aus Lichtern. Wir Männer öffnen uns jeder ein Bier und setzen uns im Kreis um die Tanne auf die kalte Erde. Meine Frau setzt sich zu uns und legt stolz einen Arm um mich. Ich bin ihr Mann, denke ich, genau deswegen hat sie mich geheiratet: weil mir einfach alles gelingt! Wir fühlen uns als Helden. Als Retter des Tages. Andreas, Felix, der Kerp und ich, wir sind die goldenen Ritter, als die Mittlere fragt: „Vater, warum ist der Herr Kerp überhaupt hier?“, und der Kerp antwortet an mich gewandt: „Achso, ja, ich wollte fragen, ob ihr mir helfen könnt, unser Haus abzuschmücken.“
Wettrüsten mit Eierflip. Erzählungen, Wartburg-Verlag, Edition Muschelkalk, Bd. 31, Weimar 2011.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Alle Rechte beim Autor.