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Tutorial: Tanne abschmücken

Johannes Lange

 

(Debo­rah I)

Nach dem Früh­stück renne ich in mein Arbeits­zim­mer, schmeiße den PC an, öffne das letzte Kapi­tel von „Der Teu­fel würde heu­len 2“ und meine Fin­ger sind ein Orkan über der Tasta­tur. Letzte Nacht bin ich auf­ge­wacht. Meine Frau schla­fend neben mir und ich schweiß­ge­ba­det und die Augen weit auf­ge­ris­sen, auf­recht im Bett sit­zend. Alles war klar. Alles war schlüs­sig. Ich mar­kiere das gesamte Kapi­tel. Drücke Entf. Beginne von vorn und weiß, dass es gut wird. Groß­ar­tig wird. Wäh­rend ich schreibe, denke ich bereits über die Rede für die Preis­ver­lei­hung nach. Nor­ma­ler­weise arbeite ich an einem Sams­tag nicht. Aber wenn es so drückt, wie heute, dann mache ich eine Aus­nahme. Ich habe einen herr­li­chen Schrift­stel­ler­or­gas­mus. Die Worte spru­deln aus mei­nem Gehirn in meine Fin­ger­spit­zen, ich denke gar nicht mehr dar­über nach, was ich schreibe, ich schreibe ein­fach nur noch. Die Krö­nung mei­ner Arbeit. Wie eine Erleuch­tung, ich befinde mich nicht mehr in mei­nem Haus, in mei­nem Arbeits­zim­mer. Wäh­rend ich schreibe, stehe ich nicht mehr über mei­nen Figu­ren, ich stehe neben Caro und dem Erzäh­ler in die­sem Bun­ker und wir betrach­ten die rie­sige Sicher­heits­tür, die in den letz­ten, in den Pro­to­ty­pen­raum führt. Wir wis­sen: dahin­ter steht die Neme­sis. Dahin­ter haben sie den Vater des Lan­des, den ersten Klon in Fes­seln gelegt. Und wir wis­sen: wir haben nur eine Chance, den Adam zu töten. Eine Gra­nate, mehr bleibt Caro und dem Erzäh­ler, mehr bleibt uns nicht. Es gibt kein Zurück mehr und es gibt nur einen Weg nach vorn. Ehr­fürch­tig betrach­ten wir diese letzte Stahl­platte vor dem Ende. Vor unse­rem und dem des Krie­ges. Der Erzäh­ler zieht die gestoh­lene Schlüs­sel­karte durch den Schlitz. Die Tür fährt nach oben auf. Dahin­ter steht meine Frau und fährt mich an: „Wann kommt denn jetzt end­lich die Lich­ter­kette vom Baum?“ Aus. Vor­bei. Alles ver­lo­ren. Wegen fünf­zig Glüh­lam­pen, mit denen meine Frau unsere kleine Tanne im Gar­ten weih­nacht­lich gestal­tet hatte. Ich spei­chere ab und folge mei­ner Frau in den Gar­ten. Auf dem Weg nölt sie: „Seit zwei Mona­ten ist Weih­nach­ten vor­bei und bei uns leuch­tet immer noch jede Nacht der Baum. Was denkst du, was die Nach­barn von uns sagen. Der Kra­vitz glotzt schon seit einer Woche ganz blöd.“ Ich sage: „Ach, der ist mir doch egal. Wegen mir kann die Kette das ganze Jahr lang leuch­ten.“ „Ja.“, sagt meine Frau. Meine Frau sagt: „Wegen dir müsste man auch nie Staub wischen.“ „Das hab ich nicht gesagt!“ „Aber bestimmt gedacht!“, sti­chelt meine Frau. „Jetzt hol die Lei­ter und mach das Ding ab.“ Ich frage: „Wo ist der Große? Ich krieg das alleine nicht hin.“ „Der ist bei sei­ner Freun­din.“ „Wie, Freun­din?“, frage ich. Ich frage: „Seit wann hat der eine Freun­din?“ Meine Frau sagt: „Keine Ahnung.“ Sie sagt: „Er hat mich gestern gefragt, ob er heute seine Freun­din zum Mit­tag­essen ein­la­den kann.“ Dann sagt sie noch: „Und bis zum Mit­tag ist das Ding da weg.“ Meine Frau sieht sich das junge Tänn­chen an. „Was soll denn das Mäd­chen den­ken, wenn sie so eine Schlam­pe­rei sieht?“, sagt sie und geht nach drin­nen. Ich ziehe ein Kinn und gehe die Lei­ter holen. Baue sie neben der Tanne auf. Klet­tere nach oben. Friere und klet­tere wie­der nach unten. Hole mir meine Jacke. Klet­tere wie­der nach oben. Sehe mir das ganze an. Die Lich­ter­kette ist um den gesam­ten Baum gewickelt. Damit sie sich nicht löst, wurde sie straff um ein­zelne Äste gekno­tet. Ich ver­su­che, einen sol­chen Kno­ten zu lösen und ste­che mich an den Nadeln. Der Kleine kommt und schaut von unten zu sei­nem Vater hin­auf. In sei­nem dicken Ano­rak sieht er unför­mig und wie eine Tonne aus. „Was machst du denn?“ „Die Scheiße hier weg­ma­chen.“ „Aha“, sagt er und geht, um allein Fuß­ball zu spie­len. Ich küm­mere mich wie­der um den Kno­ten und zer­ste­che mir meine zar­ten Tipp­fin­ger. Leise flu­chend balan­ciere ich auf der wack­li­gen Lei­ter und fistele an dem Kabel herum. Von unten höre ich den Klei­nen sein eige­nes Spiel kom­men­tie­ren: „Und er ist ganz alleine, weil seine Mann­schafs­kol­le­gen zu rich­ti­gem Fuß­ball zu inkom­pe­tent sind. Ganz allein mit dem Ball stürmt er aufs Tor“, schreit der Kleine. Ich habe den ersten Kno­ten gelöst und muss mich strecken, um den näch­sten zu errei­chen. Von unten der Kleine: „Jetzt steht es ölf gegen einen, meine Damen und Her­ren, ölf gegen einen und es sieht so aus… Jaaaaa… Er geht vor­bei, stürmt in den Straf­raum, die Abwehr völ­lig macht­los, ohn­mäch­tig müs­sen sie mit anse­hen, wie er sie alle umspielt, aus­spielt, meine Damen und Her­ren. Und jetzt… Ja, er schießt!“ Der Kleine zieht ab. Der Ball kracht gegen die Lei­ter und springt an der Tanne vor­bei. Der Kleine brüllt: „Pfo­sten­tor!!!“, und ich stürze in die Nadeln der Tanne. Ich schnauze den Klei­nen an und nehme ihm den Fuß­ball weg. Dann klaube ich mir die Nadeln aus dem Fleisch und gehe nach drin­nen zu mei­ner Frau. „Schon fer­tig?“, fragt sie vom Herd aus. „Nee, das wird so nichts. Alleine geht das nicht. Wo ist denn jetzt der Große?“, frage ich. Meine Frau sagt: „Zum fünf­ten mal: Der ist bei sei­ner Freun­din und kommt nach­her.“ Sie droht: „Und du wirst ihn nicht anru­fen und her­ho­len.“ Ich sage: „Dann muss ich bis Nach­mit­tag war­ten, wenn der wie­der da ist.“ „Ver­giss es“, zischelt meine Frau. Meine Frau faucht: „Dann hol dir jemand ande­ren.“ Also rufe ich Andreas an. Andreas ist Diplom­phy­si­ker und wird wis­sen, wie man eine Lich­ter­kette rich­tig abbaut. Er ist sofort bereit, mir zu hel­fen. Im Hin­ter­grund höre ich noch seine Frau ins Tele­fon rufen: „Dann könnt ihr gleich noch unse­ren Weih­nachts­baum ent­sor­gen!“, bevor er auf­legt. Nach zehn Minu­ten steht Andreas vor der Tür. Auf sei­nem Pas­sat fest­ge­bun­den liegt ein brau­ner, kah­ler Weih­nachts­baum. In den Hän­den hält er Axt und Säge. „Also, wo ist der Baum?“, fragt er. Ich sage: „Wir wol­len den aber nicht abrei­ßen.“ „Ich dachte?“, sagt Andreas. „Nein, nein. Nur die Lich­ter­kette abma­chen.“ „Achso. Dann lass uns erst mal mei­nen Baum in den Gar­ten räu­men.“ Wir stel­len uns links und rechts von sei­nem Wagen auf und lösen die Spann­gurte. Dann packen wir die Äste der Nord­mann­tanne an und zer­ren. Schmerz durch­zuckt meine Hand­flä­che und Andreas flucht laut: „Ach, Scheiße!“ Wir packen anders an, ver­su­chen, die brau­nen Nadeln beim Anfas­sen glatt­zu­strei­chen. Nach fünf Minu­ten beschlie­ßen wir, lie­ber Hand­schuhe anzu­zie­hen. Gerade, als wir wie­der links und rechts des Wagens ste­hen, uns strecken und an dem Baum zer­ren, ruft der Große vom Ende der Straße: „Der Phy­si­ker und der Autor ver­su­chen zu arbei­ten! Das kann ja nichts wer­den.“ Wir zer­ren wei­ter an dem Baum. Der Stamm schlägt dabei eine tiefe Delle in Andreas‘ Auto­dach. „Komm, quatsch hier nicht rum und hilf uns!“, sage ich. Andreas sagt: „Große Klappe, aber Haupt­sa­che die Freun­din dabei.“ Der Große stellt mich sei­ner Freun­din, einem schüch­ter­nen blon­den Mäd­chen, vor. Dann sagt er, er könne nicht hel­fen. „Ich hab schließ­lich Damen­be­such“, sagt der Große und schließt die Haus­tür auf. Bevor er ver­schwin­det ruft er uns noch zu: „Ver­sucht doch mal, das Teil zu zer­sä­gen!“, und ich bin stolz auf mei­nen klu­gen Sohn. Andreas und ich set­zen also Säge und Axt an und zer­tei­len den Stamm sau­ber auf sei­nem Auto­dach. Nach­dem wir alle Ein­zel­teile in eine Ecke der Ein­fahrt geschmis­sen haben, betrach­ten wir die Schram­men, Löcher und Del­len auf sei­nem Pas­sat. „Nur damit wir uns nicht wider­spre­chen“, intri­giert Andreas, „wenn meine Frau fragt, hat es geha­gelt, als ich bei dir war.“ Dann gehen wir in mei­nen Gar­ten und betrach­ten unsere kleine Tanne. Ich sage: „So, das Zeug muss alles run­ter.“ „Wollt ihr das näch­stes Jahr noch­mal auf­hän­gen?“, fragt Andreas. Ich sage: „Ja“, und Andreas sagt: „Achso. Sonst hätte ich ein­fach gesagt, wir zer­schnei­den das Kabel und kau­fen eine neue Kette.“ Im ersten Moment finde ich den Vor­schlag nicht schlecht. Als ich aber meine Frau nach der Gar­ten­schere frage und auf ihre Nach­frage erkläre, wofür ich sie brau­che, ver­bie­tet sie uns aus­drück­lich, die Kette zu zer­schnei­den. Dann fragt sie noch: „Und über­haupt: Was dau­ert denn da so lange?“, und die Mitt­lere, die in der Küche die Zei­tung liest sagt noch: „Letz­tes Jahr habe ich eine halbe Stunde dafür gebraucht.“ Ich sage: „Schweig!“, und gehe wie­der nach drau­ßen zu Andreas. Der hat inzwi­schen die Lei­ter wie­der auf­ge­stellt und hält sie fest. Ich klet­tere nach oben. Mache mich wie­der an den Kno­ten zu schaf­fen. Andreas hält die Lei­ter in sei­nem Schraub­stock­griff. Ich fühle mich sehr sicher. Zwei Kno­ten lösen sich so auch ein­fach. Beim drit­ten muss ich mich wie­der weit nach links beu­gen und die Arme aus­strecken, um ihn zu errei­chen. Ich sage: „Hältst du?“ „Warte mal, das geht so nicht.“, sagt Andreas. Ich sehe nach unten, strecke mich noch wei­ter nach links und sage: „Halt die Lei­ter fest.“ Andreas stellt sich breit­bei­ni­ger und ruft: „Du lehnst dich zu weit nach links!“ Ich lehne mich noch wei­ter und greife den Kno­ten mit der lin­ken Hand. „Halt fest!“, rufe ich. Andreas lehnt sich nach rechts und zerrt an der schwan­ken­den Lei­ter. „Das kippt!“, schreit er. Ich schreie: „Halt fest!“ Andreas schreit: „Vor­sicht!“ Ich stürze in die Tanne. Ver­hed­dert in Kabeln, gehal­ten von Ästen und durch­bohrt von Nadeln sehe ich auf der Ter­rasse die Mitt­lere, den Gro­ßen, seine Freun­din und meine Frau lachen. Zu allem Über­fluss ruft meine Frau noch: „Ihr Heinze!“ Ich rap­pele mich wütend wie­der auf, ent­ferne wei­tere Nadeln. Ich spüre, dass mir eine Nadel in die Nase gerutscht ist und ver­su­che, sie aus­zu­rot­zen. Es klappt nicht. „Warum hast du nicht gehal­ten?“, fahre ich Andreas an. Andreas fährt zurück: „Du kannst dich doch nicht so weit beu­gen.“ „Doch“, sage ich, „wenn du rich­tig hal­ten wür­dest.“ „Du hat­test über­haupt kei­nen Stand“, sagt Andreas. Er sagt: „Du hast oben total gewackelt, das konnte ich nicht mehr hal­ten.“ Dann set­zen wir uns mit einem Blatt Papier in die Küche und stel­len Berech­nun­gen an. Wir schrei­ben auf, wie viel ich wiege und wel­cher Hebel auf die Lei­ter wirkt, wenn ich in einem 30°-Winkel nach links gebeugt auf der ober­sten Sprosse stehe. „Nee“, sage ich. Ich sage: „Auf die Ober­ste traue ich mich nicht, ich steh höch­stens auf der Vor­letz­ten.“ Andreas streicht alle Rech­nun­gen wie­der durch und wir set­zen neu an. Meine Frau sagt vom Herd aus: „Ach klar, macht erst mal Pause. Gear­bei­tet ist dann schnell.“ Sie fragt: „Soll ich euch noch ein Bier brin­gen?“ Ich weiß schon, was ich jetzt nicht ant­wor­ten darf. Andreas kennt meine Frau nicht gut genug und sagt: „Ach, eins kann ich trin­ken, wenn ich fahre, oder?“ Meine Frau ver­lässt den Platz hin­term Herd und treibt uns mit dem elek­tri­schen Quirl wie­der nach drau­ßen. Dort ste­hen wir rat­los vor der Tanne mit der Lich­ter­kette. „Das müs­sen wir anders machen“, sagt Andreas. Wir wis­sen aber nicht, wie. Wir bera­ten, ob wir viel­leicht erst die unte­ren Kno­ten lösen sol­len, die wir ohne Lei­ter errei­chen kön­nen. „Frü­her oder spä­ter müs­sen wir aber auf die Lei­ter“, sage ich, „und dann haben wir wie­der nur Ärger.“ Andreas sagt: „Lass uns mal goog­len, wie man so eine Kette abbaut.“ Wir goog­len mit unse­ren Han­dys, fin­den aber nichts Rich­ti­ges. Andreas ent­deckt bei Ama­zon eine Lich­ter­kette, die sich übers WLAN an- und aus­schal­ten lässt. Ich finde ein Forum, in dem es nur um Lich­ter­ket­ten­tu­ning geht. An ein Tuto­rial fürs Abbauen scheint noch nie­mand einen Gedan­ken ver­schwen­det zu haben. Es gibt nur lau­ter ver­zwei­felte Ehe­män­ner, die sich beschwe­ren, dass es im Inter­net keine Anlei­tung zum Lich­ter­ket­ten­ab­bauen gibt. Wäh­rend ich ver­zwei­felt im App­Store nach einer iPhone-App suche, die beim Lich­ter­ket­ten­ab­bau hel­fen könnte, kommt unser Freund Felix um die Haus­ecke. Wir begrü­ßen ihn und er erklärt: „Ich musste mal raus. Jetzt, wo ich kein Holz mehr hacken muss, lang­weil ich mich zu Tode!“ Dann zei­gen wir ihm unser Pro­blem und Felix sagt: „Warte mal, mein Bru­der hat eine Hebe­bühne, die braucht der heute nicht.“ Er zieht sein Handy und ruft sei­nen Bru­der an. Wir lau­schen gespannt. Nach ein paar Wor­ten legt er auf und sagt: „Jap, die kön­nen wir abho­len.“ Also set­zen wir uns in Felix‘ Auto und fah­ren zu sei­nem Bru­der. Der zieht gerade die Hebe­bühne aus sei­nem Schup­pen. „Da müsst ihr aber auf­pas­sen“, sagt er, „das Ding ist uralt.“ Felix‘ Bru­der sagt: „Ich bin damit schon umge­kippt.“ Er fährt die Bühne aus und sagt: „Hier ist mir schon was raus­ge­bro­chen.“ Dabei zeigt er auf ein mit Holz und Duct-Tape geflick­tes Ele­ment des Arms. Felix sagt: „Jaja, wir pas­sen schon auf“, und wir hel­fen ihm, die Bühne an sei­ner Anhän­ge­kupp­lung zu befe­sti­gen. Der Bru­der steht dane­ben. „Ach ja, hier.“ Er reicht uns ein Stück Draht und sagt: „Das ist mir mal abge­ris­sen.“ Felix‘ Bru­der sagt: „Das müsst ihr hier­mit fest­ma­chen.“ Felix wickelt den Draht um seine Anhän­ge­kupp­lung und den Rest der Kupp­lung der Bühne. Dann ver­ab­schie­den wir uns und fah­ren los. Unter­wegs reißt die Hebe­bühne zwei­mal ab. Ein­mal kracht sie gegen einen Later­nen­pfahl, der der Stadt gehört. Wir beschlie­ßen, den Scha­den nicht zu mel­den und hof­fen, dass kei­ner gese­hen hat, was geschah. Als sie das zweite Mal abreißt, sind wir schon bei mei­ner Ein­fahrt. Felix hat das Steuer wohl zu stark ein­ge­schla­gen. Die Bühne löst sich vom Auto, als wir gerade in die Ein­fahrt ein­bie­gen wol­len. Wir sehen nur noch, wie sie durch Kra­vitz‘ Gar­ten­zaun kracht. Holz­split­ter flie­gen durch die Luft. Der ganze Zaun wackelt bedroh­lich. Als wir aus­stei­gen, rennt der Nach­bar schon zum Unfall­ort. „Also das ist doch…!“, ruft er laut. Wir betrach­ten das Loch in der Holz­wand. „Ist das jetzt ein neuer Sport?“, ruft der Kra­vitz. Der Kra­vitz ruft: „Hebe­büh­nen­ke­geln, oder wie?“ Andere Nach­barn tre­ten an ihre Zäune und sehen zu uns. Ich sage: „Nein nein, wir woll­ten nur unsere Lich­ter­kette abbauen“, und erkenne gleich, wie dumm das klingt. „Die ist uns abge­ris­sen“, sage ich noch und Felix stößt mir den Ellen­bo­gen in die Rip­pen. „Ihre Haft­pflicht­ver­si­che­rungs­num­mer?“, sagt Kra­vitz und Andreas sagt: „Ich bitte Sie, das ist doch nur ein Zaun­ele­ment, das erset­zen wir Ihnen so.“ „Ihre Haft­pflicht­ver­si­che­rungs­num­mer?“, sagt der Kra­vitz jetzt mit Nach­druck und ein Nach­bar ruft: „Die war ja gar nicht rich­tig fest­ge­macht!“, und zeigt auf Felix‘ Anhän­ger­kupp­lung und die Draht­re­ste, die noch daran hän­gen. Der Kra­vitz trot­tet zum Auto und sieht sich das Ganze an. Wir trot­ten hin­ter­her und reden beschwich­ti­gend auf ihn ein. Felix sagt: „Da geben wir Ihnen mal hun­dert Euro und dann hat sich das, das ist doch nicht so schlimm.“ Aber der Kra­vitz hört gar nicht hin. Grinst nur hämisch. Sagt: „Ooh, das wird teuer.“ „Ach, jetzt kom­men Sie, wir bauen Ihnen das Ele­ment auch ein“, sagt Andreas. Ich sage: „Da müs­sen wir doch jetzt nicht so einen Auf­stand machen“, aber der Kra­vitz erwi­dert nur: „Ihre Haft­pflicht­ver­si­che­rungs­num­mer?“ Ich gehe ins Haus und suche nach den Unter­la­gen. Meine Frau erwischt mich natür­lich und ich muss mich erklä­ren. Erwarte ein Don­ner­wet­ter. Aber sie schüt­telt nur trau­rig den Kopf, sagt resi­gniert: „In fünf Minu­ten gibt’s Mit­tag“, und ver­lässt den Raum. Nach­dem sich der Kra­vitz meine Num­mer notiert und noch ein­mal selbst­ge­fäl­lig das zer­störte Zaun­ele­ment betrach­tet hat, gehe ich zurück zur Tanne, wo Felix und Andreas bereits die Füße der Hebe­bühne aus­fah­ren. Das ganze sieht ordent­lich aus. So, als ob es was wer­den könnte. Wir haben die Bühne mit der Längs­seite zum Baum auf­ge­stellt. Felix hat gesagt, dann könn­ten zwei von uns drauf und gleich­zei­tig abbauen. Felix hat gesagt: „Da geht es schnel­ler.“ Also klet­tern Felix und ich auf die Platt­form und Andreas fährt uns nach oben. Es ist recht laut und manch­mal hören wir es im Gestänge unter uns knacken. Ein­mal klingt es, als ob Metall zer­reißt und Andreas hält kurz an. Schließ­lich sind wir aber auf Höhe der Tan­nen­spitze und begin­nen, uns an den Kno­ten zu schaf­fen zu machen. Felix sagt: „Wel­cher Idiot hat das denn fest­ge­kno­tet.“ „Meine Frau“, sage ich und Felix sagt: „Naja, ist ja nicht so wich­tig.“ Andreas ruft von unten: „Ich hab auch schon gesagt, dass man das mit Klam­mern fest­ma­chen muss.“ „Quatsch, Klam­mern, ihr habt alle keine Ahnung“, sagt Felix und von wei­tem hören wir den Kerp rufen: „Was is’n hier los?“ Felix und ich sehen nach unten. Neben Andreas steht Dr. phil. Kerp, Master of Arts der Ur- und Früh­ge­schichte, und grinst zu uns nach oben. „Ihr wollt wohl Lich­ter­ket­ten abbauen?“, fragt er. Wir sagen ja und ich erkenne im Augen­win­kel, wie die Mitt­lere drin­nen die Augen ver­dreht, als sie den Kerp erkennt. Sie kann ihn nicht mehr lei­den, seit sie mich in sei­ner Anwe­sen­heit ein­mal nach einem Schirm gefragt hat. Der Kerp hat gesagt: „Wozu braucht denn eine Frau einen Schirm, zwi­schen Schlaf­zim­mer und Küche regnet’s doch nicht.“ Und die Mitt­lere ist ohne ein Wort aus dem Raum gestürmt und igno­riert seit­dem jedes Ange­bot, Herrn Dr. Kerp duzen zu dür­fen. Der Kerp sagt jetzt: „Die Bühne sieht aber nicht mehr sehr neu aus“, und zeigt auf das mit Holz geflickte Ele­ment. Felix sagt: „Das hält schon“, und Andreas und ich nicken zuver­sicht­lich. Dann küm­mern wir uns wie­der um die Kno­ten und Andreas legt dem Kerp dar, wieso wir eine Hebe­bühne und keine Lei­ter ver­wen­den. Als wir gerade so rich­tig schön in Schwung sind, jeder von uns bereits fünf Kno­ten gelöst, die Hände zwar zer­sto­chen, aber flei­ßig wei­ter knib­belnd, ruft meine Frau „Mit­tag!“ Ich rufe zurück: „Jetzt nicht, nach­her!“ Meine Frau ruft: „Mit­tag!“ Ich rufe zurück: „Nein!“, und meine Frau geht wie­der rein. Wir arbei­ten drau­ßen wei­ter. Es geht ganz gut. Nach zehn Minu­ten sind wir auf der ober­sten Ebene fer­tig und Andreas fährt uns ein Stück nach unten. Es kracht ordent­lich und der Motor heult auf. Die Platt­form schwankt und zit­tert und der Kerp ruft: „Das explo­diert!“, und macht einen gro­ßen Satz nach hin­ten. Andreas drückt wei­ter auf den Abwärts­knopf und der Motor wird immer lau­ter. Die Bühne senkt sich kein Stück, beginnt jetzt aber zu qual­men. Felix ruft: „Hör auf, hör auf!“ Dun­kel­blauer Rauch steigt auf. Andreas rennt davon. Der Kerp ruft von wei­tem: „Run­ter da!“ und Felix ruft: „Das bricht zusam­men!“ Ich schreie: „Weg!“ Die Bühne fängt Feuer. Irgendwo unter uns platzt etwas in einem Feu­er­ball. Flam­men schla­gen nach oben. Öli­ger Qualm hüllt uns ein. Gei­stes­ge­gen­wär­tig schwin­gen Felix und ich über das vom Baum abge­wandte Gelän­der. Wie zwei James Bonds brin­gen wir uns mit einem Stunt vor der Explo­sion in Sicher­heit. Der Motor der Hebe­bühne fängt Feuer und die Flam­men brei­ten sich rasend schnell aus. Irgendwo unter uns hören wir den Appa­rat zer­ber­sten. Nun ist es in solch einer Extrem­si­tua­tion oft­mals so, dass man die Gesetze der Phy­sik gern ver­gisst. Wenn das eigene Leben in Gefahr ist, wenn man an der Gur­gel bereits die kalte, schar­tige Sen­sen­k­linge spürt, dann denkt man nicht mehr daran, dass 160 Kilo­gramm pen­delnde Masse auf der Kante einer aus­ge­fah­re­nen, explo­die­ren­den Hebe­bühne mit pro­vi­so­ri­schem, bren­nen­den Holz­ge­stänge kei­nes­falls im Sinne des Erbau­ers der­sel­ben lie­gen kön­nen. So wun­dere ich mich nicht, dass die Holz­latte über­rascht ächzt, sagt: „Nicht mit mir“, und ein­fach zer­bricht. Der Arm der Hebe­bühne knickt ein. Metall ver­biegt sich. Zwei Män­ner stür­zen auf die harte Erde. Auf ihnen lan­den einige Metall­teile, unter ande­rem die Platt­form der Maschine. Andreas ruft: „Ach du Scheiße!“ Meine Fami­lie und das fremde Mäd­chen stan­den zu die­sem Zeit­punkt glück­li­cher­weise am Fen­ster, in der Hoff­nung, etwas Sen­sa­tio­nel­les würde pas­sie­ren. So kön­nen uns Andreas, der Kerp, meine Frau und der Große schnell befreien und vor einem Erstickungs­tod in der Stahllawine bewah­ren. Wir löschen die Flam­men mit einer Eimer­kette und ste­hen dann rat­los vor dem Häuf­chen Stahl. Felix sagt: „Scheiße.“ Er sagt: „Mein Bru­der killt mich“, und der Kerp erwi­dert: „Nee, dein Bru­der hätte dich fast gekillt.“ „Das kann doch nicht so schwer sein, mit so einer beklopp­ten Lich­ter­kette!“, rufe ich. Ich rufe: „Das kann doch nicht sein, 4 gestan­dene Män­ner!“ „Naja“, sagt meine Frau, „Wir gehen wie­der rein.“ Und meine Fami­lie geht wie­der ins Haus. Wir Män­ner blei­ben vor den Trüm­mern ste­hen und füh­len uns elend und allein. Hilf­los sehen wir zu der Tanne, sehen zu der Lich­ter­kette, die wie zum Hohn plötz­lich auf­leuch­tet. Der Kleine und die Mitt­lere haben den Strom ange­schal­tet, um sich über uns lustig zu machen. Ich habe nicht mehr die Ener­gie, sie des­we­gen zu rügen. Schalte nur den Strom wie­der ab. Sage nichts mehr. Der Kerp bie­tet uns reihum Ziga­ret­ten an. „Erst­mal eine rau­chen“, sagt er und wir sagen ja. Der Kra­vitz kommt zu uns, sieht sich die Trüm­mer an. „Na, jetzt haben sie’s wohl geschafft?“ Wir ste­hen stumm und blicken auf die Hebe­büh­nen­re­ste. „Ich hab’s vom Fen­ster gese­hen“, sagt der Kra­vitz. Wir ste­hen stumm. Der Kra­vitz sagt: „Viel­leicht kommt Weis­heit bei man­chen Men­schen doch nicht im Alter.“ Wir sagen nichts. Der Kra­vitz sieht zur Lich­ter­kette und sagt: „So ein Elend aber auch. Meine ist schon lange ab.“ Wir rau­chen still. „Naja, ich hab jeden­falls nicht den gan­zen Tag Zeit“, sagt der Kra­vitz und dreht sich zum Gehen. Felix zischt: „Ich hau ihm in die Fresse!“ Wir nicken zustim­mend. Als wir die Ziga­ret­ten aus­ge­drückt haben, set­zen wir uns in die Küche. Trin­ken ein Bier. Über­le­gen, was zu tun ist. Eine Stunde lang dis­ku­tie­ren wir hin und her. Die Tanne fäl­len ist so wenig eine Option wie die Lich­ter­kette zer­schnei­den. Felix schlägt vor, die Äste abzu­schnei­den und im Win­ter, wenn die Kette wie­der ange­bracht wird, ein­fach wie­der anzu­schrau­ben. Wir leh­nen ab, weil wir keine Mög­lich­keit sehen, Gewinde in den Stamm der Tanne zu dre­hen, ohne dass das Holz split­tert. Andreas schlägt vor: „Man könnte doch eine neue Tanne kau­fen, die alte aus­gra­ben und die neue pflan­zen.“ Der Kerp, der des Berufs wegen viel aus­gräbt, horcht auf: „Eine neue kau­fen brau­chen wir gar nicht.“ „Warum?“, fragt Felix. Der Kerp, jetzt ein Dr. phil. mit leuch­ten­den Augen, sagt: „Wir gra­ben die ein­fach wie­der ein, wenn die Kette run­ter ist.“ „Nein!“, sage ich und denke dabei an meine Frau. Ich sage: „Wir gra­ben die Tanne nicht aus.“ Andreas sagt: „Aber da ist doch nichts dabei. Mit Wur­zeln und allem, das stört ja gar nicht.“ Der Kerp sagt: „Wir wäs­sern die schön und gra­ben sie wie­der ein.“ Felix sagt: „Das merkt man hin­ter­her gar nicht mehr, dass die mal raus war.“ Ich denke an meine Frau und sage: „Nein!“ Zehn Minu­ten spä­ter bekom­men wir Ärger. Meine Frau über­rascht uns, als wir im Gän­se­marsch zum Baum lau­fen, die Spa­ten auf den Schul­tern. Sie sieht die Spa­ten und begreift sofort. „Das könnt ihr ver­ges­sen!“, ruft sie, als wir die Tanne noch nicht erreicht haben. Ich sage: „Lass uns nur mal machen.“ „Nein!“, sagt sie. Meine Frau sagt: „Das könnt ihr gleich ver­ges­sen, geht weg mit den Spa­ten.“ Der Kerp flü­stert mir ins Ohr: „Soll ich sie bewusst­los schla­gen? Wenn sie auf­wacht, steht der Baum längst schon wie­der.“ Ich mache eine Hand­be­we­gung, die sagt: Nach­her, lass es mich erst ein­mal im Guten pro­bie­ren. Ich erkläre mei­ner Frau unse­ren Plan. „Den Baum hat uns mein Bru­der zum Richt­fest geschenkt! Der wird nicht aus­ge­gra­ben.“ Der Kerp schleicht sich hin­ter meine Frau. Ich sage: „Aber wir bud­deln ihn doch wie­der ein.“ Der Kerp hebt die Schau­fel. Meine Frau bemerkt nichts. „Ihr könnt doch ein­fach die Lich­ter­kette abma­chen und gut!“ Der Kerp holt weit, weit aus. Ich sage: „Ach was, es sind doch nur zehn Minu­ten, die er drau­ßen ist. Das ist doch keine Arbeit.“ „Herr­gott, das ist doch albern, wegen so einer Lap­pa­lie!“, sagt meine Frau. Sie dreht sich zum Kerp um und sagt: „Komm, Kerp, mach dich nicht lächer­lich.“ Ich sage: „Du siehst doch, dass wir’s nicht hin­krie­gen“, und der Kerp lässt den Spa­ten sin­ken. „Manch­mal frage ich mich…“, hebt meine Frau an, bringt den Satz aber nicht zu Ende. Wir begin­nen das Gra­ben. Wir schau­feln. Stän­dig stel­len wir fest, dass wir das Loch ver­grö­ßern müs­sen, weil sich die Wur­zeln stark aus­ge­brei­tet haben. Andreas holt seine Axt, aber ich ver­biete, die Wur­zeln zu durch­schla­gen. Trotz­dem machen sie es heim­lich, wenn ich nicht hin­sehe. Unsere Hände bekom­men Bla­sen, die auf­plat­zen. Die Spa­ten­stiele wer­den nass von Blut und Schweiß. Trotz der Kälte drau­ßen zie­hen wir unsere Jacken aus. Irgend­wann kommt der Kra­vitz vor­bei, aber wir reagie­ren nicht auf ihn, sodass er schnell wie­der abzieht. Nach drei Stun­den haben wir die Wur­zeln frei­ge­legt. Der Baum wird jetzt von nichts mehr gehal­ten. Wir beglück­wün­schen uns schwer atmend und Felix tritt gegen den Stamm. Der Kerp ruft: „Tim­ber!“ Andreas wird unter Tan­nen­ä­sten begra­ben. Wir lösen alle Kno­ten. Meine Frau, der Große und seine neue Freun­din sehen uns kopf­schüt­telnd zu. Dann rol­len wir den Baum wie eine leere Tonne durch den Gar­ten, sodass am Ende des Grund­stücks die gesamte Lich­ter­kette im Gras liegt. Schließ­lich set­zen wir Äxte und Sägen an, weil Felix vor­ge­schla­gen hat, lie­ber lau­ter hand­li­che Stück­chen, als den gan­zen schwe­ren Baum zurück zum Loch zu tra­gen. Meine Frau schrei­tet recht­zei­tig ein. Als es bereits däm­mert, steht unsere Tanne wie­der an ihrem Platz. Das Loch ist geschlos­sen. Der Baum brei­tet seine Äste aus. Noch etwas geknickt und ver­wirrt, aber man sieht, dass er sich wohl fühlt, so ganz ohne die lästige Fes­sel aus Lich­tern. Wir Män­ner öff­nen uns jeder ein Bier und set­zen uns im Kreis um die Tanne auf die kalte Erde. Meine Frau setzt sich zu uns und legt stolz einen Arm um mich. Ich bin ihr Mann, denke ich, genau des­we­gen hat sie mich gehei­ra­tet: weil mir ein­fach alles gelingt! Wir füh­len uns als Hel­den. Als Ret­ter des Tages. Andreas, Felix, der Kerp und ich, wir sind die gol­de­nen Rit­ter, als die Mitt­lere fragt: „Vater, warum ist der Herr Kerp über­haupt hier?“, und der Kerp ant­wor­tet an mich gewandt: „Achso, ja, ich wollte fra­gen, ob ihr mir hel­fen könnt, unser Haus abzuschmücken.“


Wett­rü­sten mit Eier­flip. Erzäh­lun­gen, Wart­burg-Ver­lag, Edi­tion Muschel­kalk, Bd. 31, Wei­mar 2011.
Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Autors. Alle Rechte beim Autor.

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