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Ulli Rappelkopf

Anne Gallinat

 

Es ist zum Ver­zwei­feln. Zum Heu­len. Zum Brül­len. Zum Um-Sich-Schla­gen. Und sonst noch­was. Es nützt Uli nichts. Rein gar nichts. Das Urteil sei­ner zwei­und­fünf­zig Ersatz­schwe­stern und –brü­der im Kin­der­heim „Son­nen­land“ steht fel­sen­fest. Egal, was Uli tut. Egal, was Uli sagt. Jedes mal wer­den zwei-und­fünf­zig Köpfe geschüt­telt. Es wird zwei­und­fünf-zig mal tief auf­ge­seufzt. Und zwei­und­fünf­zig Kin­der sagen einen Satz: „Uli ist ein Rappelkopf.“
Dabei gibt sich Uli alle erdenk­li­che Mühe ganz nor­mal zu sein. Doch schon bei klit­ze­klei­nen Klei-nig­kei­ten geht es los. Jeden Mor­gen zer­kratzt sich Uli mit einem nas­sen Kamm den Kopf, um sein strubbe-liges Haar in Form zu brin­gen. Schon eine halbe Stunde spä­ter ist alles zer­wu­schelt und zer­ru­schelt. „Wie Kraut und Rüben“, sagt die Erzie­he­rin Frau Neun­übel. Ulis Pull­over aber schei­nen mit geheim-nis­vol­len Kräf­ten aus­ge­stat­tet zu sein. Kaum hat er sie frisch ange­zo­gen, ist ein Fleck dar­auf. Nie­mand weiß woher.
„Die sind magne­tisch“, erklärt Uli. Doch weder Frau Neun­übel, noch seine zwei­und­fünf­zig Notge-schwi­ster glau­ben an magne­ti­sche Pull­over. Kei­ner glaubt an Dinge, an die Uli glaubt. Und das ist das Allerschlimmste.
Wenn Uli am Mor­gen erzählt: „Heut‘ nacht hat mir ein Riese bei­gebracht, wie man ein Fahr­rad baut, das rich­tig flie­gen kann“, dann hört er zwei­und­fünf­zigfa-ches Lachen.
Die Leh­re­rin in der Schule ist erschüt­tert. „Larifa-ri, Koko­lo­res, Fir­le­fanz“, ruft sie ent­gei­stert aus. Und sich zur Ruhe zwin­gend, fügt sie noch hinzu: „Du bist zehn. Wer in die vierte Klasse geht, der sollte wis­sen, dass es Rie­sen nicht ein­mal im Traum gibt.“
Frau Neun­übel gibt ihr recht, indem sie fest­legt: „Träume sind Schäume.“
Uli holt trotz­dem sein Fahr­rad aus dem Kel­ler. Er erforscht heim­lich den Schrott­platz und stö­bert einen Motor auf, der sogar noch funk­tio­niert. Gemein­sam mit dem Haus­mei­ster Fried­wart Seele baut er mächti-ge Flü­gel aus Sperr­holz­lat­ten. Uli erklärt Herrn Seele, was er von dem Rie­sen gelernt hat: „Leicht müs­sen sie sein. Man muss sie ganz genau berech­nen, damit es mit dem Auf­trieb klappt.“
Der Haus­mei­ster hat einen gro­ßen Vor­zug für Uli. Er fragt nichts. Er sagt nichts. Er spricht nie. Wenn man etwas von ihm will, dann fängt er ein­fach damit an. Zwei­und­fünf­zig Augen­paare ver­fol­gen, wie aus Ulis Fahr­rad ein Flie­ger wird. Zwei­und­fünf­zig Kin­der ver­fol­gen auch den Jung­fern­flug von Ulis Fahr­rad. Uli lässt den Motor an. Er knat­tert und brüllt. Er stößt bläu­li­che Qualm­wol­ken aus, die den gan­zen Hof des Kin­der­heims „Son­nen­land“ in undurch­dring­li­chen Nebel hül­len. Auch Uli und sein flie­gen­des Fahr­rad. Als die Qualm­wolke ver­flo­gen ist, sieht man zu-nächst, dass die Sperr­lat­ten­flü­gel ver­kohlt sind. Ulis Kraut- und Rüben­schopf gleicht öli­gem Meer­tang. Sein magne­ti­scher Pull­over ist rußig angeschwärzt.
Aber Ulis Lächeln ist tri­um­phie­rend und sie­gesge-wiss: „Ein biss­chen ist es schon geflo­gen. Fast zwei Meter hoch“, stellt er vol­ler Stolz fest.
Zwei­und­fünf­zig Kin­der brül­len und gackern: „Uli is ein Rap­pel­kopf. Uli is ein Rappelkopf.“

Sei­nen wun­der­bar­sten, schön­sten Traum erzählt Uli nie­man­dem. Er will ihn sich nicht madig machen las­sen. Von kei­nem. Mag sein, dass Fahr­rä­der nicht flie­gen und Tiere viel­leicht nicht spre­chen kön­nen. Die­ser Traum ist etwas ande­res. Er kann nicht nur, er muss ganz ein­fach wahr sein.
Uli träumt davon, dass eines Tages eine Mama kom­men und ihn auf ewig aus dem „Son­nen­land“ ent­füh­ren wird. Sein Traum hat ihm sogar gezeigt, wie seine Mama aus­se­hen wird. Schmal und schlank wie ein Mäd­chen. Mit ver­träum­ten, sanf­ten Augen, einer fre­chen, som­mer­spros­si­gen Stups­nase und einer Stimme, die so tief und weich klingt wie ein Kon­tra-bass. Vor­erst jedoch gibt es seine Mama wirk­lich nur im Traum. Uli ist ein Wai­sen­kind. Des­halb lebt er im Kin­der­heim „Son­nen­land“.


aus: Stra­ßen­händ­ler, Geln­hau­sen 2005.
Alle Rechte bei der Autorin.
Abdruck mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Autorin.

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