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An der Biegung des Flusses – ein Buch über die Werra (Auszug)

Sandra Blume

 

VOM FLUSS AUS BETRACHTET

Nach den nas­sen Erfah­run­gen im hohen Gras beschließe ich, die Zeit
bis zur ersten Mahd der Wie­sen zu über­brücken und mit dem Boot
wei­ter­zu­wan­dern. Mit Bus und Bahn reise ich an einem
Mon­tag­nach­mit­tag von Tie­fen­ort nach lmmel­born und laufe mit dem
Pack­raft­boot im Ruck­sack zur Werra, bis zu jener Stelle nahe der
Kie­s­seen, an der meine erste Wan­de­rung im Regen endete. Als ich das
Boot unten am Fluss ablade, scheu­che ich eine Nil­gans­fa­mi­lie auf. Ein
Küken wird von der eili­gen Strö­mung erfasst und abge­trie­ben. Es fiept
ver­zwei­felt, die Gän­se­mut­ter ruft laut und lockend, aber traut sich nicht,
an mir vor­bei zu ihm zu schwim­men. Ich ver­lasse eilends das Ufer,
klet­tere die Böschung wie­der hin­auf und ver­berge mich hin­ter den hohen
Brenn­nes­seln. Als sich das Küken fin­dig aus der Strö­mung der
Fluss­mitte pad­delnd in die ruhi­gen Ufer­be­rei­che ret­tet, atme ich
erleich­tert auf. Dann wagt auch die Gän­se­mut­ter, gefolgt vom Rest der
Fami­lie, den Abstand auf­zu­ho­len. Laut schimp­fend schwim­men sie
davon, das geret­tete Gäns­lein in ihrer Mitte.

Neben einer aus dem Fluss auf­ra­gen­den uralten Weide, deren Stamm
meh­rere Män­ner nur mit Mühe umfas­sen könn­ten, schiebe ich das kleine
Schlauch­boot in den Strom. Der erfasst das leichte Was­ser­fahr­zeug und
trägt mich davon. Zunächst bin ich mit dem Boot beschäf­tigt, mit der
rich­ti­gen Sitz­po­si­tion und dem geeig­ne­ten Pad­del­schlag, mit der Kamera
und den vor­bei­ei­len­den Ufern. Wann immer ich ver­su­che, ein Foto zu
machen, und die Pad­del ruhen lasse, weil ich dazu beide Hände
brau­che, dreht sich mein Schiff­chen, und das Motiv ent­schwin­det dem
Sucher. Nach einer Weile gebe ich auf und über­lasse mich dem Fluss
und dem stil­len Schauen. Den Fluss vom Fluss aus wahrzunehmen,
wäh­rend das Boot strom­ab­wärts glei­tet, gleicht einer Reise durch ein
unbe­kann­tes Land. Die Per­spek­tive ändert sich. Es ist, als würde ich mit
den Augen des Flus­ses sehen kön­nen, wie die Welt beschaf­fen ist, an
der seine Was­ser sich reiben.

Zwi­schen lmmel­born und Bad Sal­zun­gen ist die Werra an bei­den Ufern
von einem dich­ten Gehölz­saum ein­ge­fasst. Mäch­tige Pappelstämme
ragen mit ihrem Wur­zel­ge­flecht wie urtüm­li­che Fun­da­mente einer
Festung aus dem Was­ser auf und schüt­zen das Ufer vor dem steten
Nagen des Flus­ses. Knor­rige Bruch­wei­den und dickstämmige
Sil­ber­wei­den recken die Äste zur Fluss­mitte hin. Das inten­sive Maigrün
der frisch belaub­ten Bäume spie­gelt sich auf der Sil­ber­haut des
Was­sers. Kleine Stru­del quel­len auf, wel­len das Bild. Unter dem dichten
Bewuchs der Ufer steht die Werra schwarz und uner­gründ­lich. Ein
Stock­enten­paar fliegt auf, als das Boot vor­über­glei­tet. Eine Bachstelze
trip­pelt mit wip­pen­dem Schwanz über einen halb ver­sun­ke­nen Ast, von
irgend­wo­her erklingt der cha­rak­ter­volle Gesang einer Nach­ti­gall. Ich
lau­sche ver­zückt. Myria­den von Mücken schwär­men dicht über der
Was­ser­ober­flä­che: Leuch­tende, schwir­rende Ster­nen­hau­fen im
glei­ßen­den Son­nen­licht. Eine Bisam­ratte schwimmt eilig, gegen die
Strö­mung, an mir vor­bei. Bis auf das viel­stim­mige Zwit­schern der Vögel
und das gele­gent­li­che leise Plät­schern, wenn der Fluss ein Hin­der­nis in
sei­nem Lauf – einen auf­ra­gen­den Ast etwa – umfließt, ist eine große
Stille auf dem früh­lings­grü­nen Was­ser. Ich lasse das Boot glei­ten, um
die Ruhe nicht zu stö­ren. Wie ein Stück Treib­gut tru­delt es behäbig
strom­ab­wärts, ich werde Teil des träge dahin­flie­ßen­den Stroms.

Ent­lang des Spül­saums der Ufer hän­gen, selt­sa­men Früch­ten gleich,
Geni­ste aus abge­bro­che­nen Zwei­gen, Holz­stücken und
Zivi­li­sa­ti­ons­re­sten in den Bäu­men und Büschen. Jedes Hochwasser
formt die geheim­nis­vol­len Gebilde wei­ter, schnürt sie enger, ergänzt
neue Stücke, trägt andere davon. Ver­wit­terte Teile von Plastiktüten,
ver­wo­ben in einem Bün­del aus Schilf­hal­men, Schnurresten,
ver­bli­che­nen Ast­stück­chen und einem, wie eine tibe­ti­sche Gebetsfahne
her­aus­hän­gen­den, Wäsche­eti­kett flat­tern über der Strö­mung des
Flus­ses. Was an kul­ti­sche Objekte erin­nert, ist Bestand­teil natürlicher
Gewäs­ser­land­schaf­ten. Genist ist Lebens­raum für eine Viel­zahl von
Tier­ar­ten. Unter­ge­tauch­tes Geschwemm­sel beher­bergt Jung­fi­sche, über
dem Was­ser bewoh­nen unzäh­lige Schnecken­ar­ten die Genist-
Ansamm­lun­gen. Die Grenze zwi­schen Natur und Müll ist nicht
trenn­scharf zu zie­hen. An man­chen Stel­len des Flus­ses wach­sen ganze
bewohnte Skulp­tu­ren aus Unrat an den Ufer­bäu­men empor.

Dann ist die Luft für Augen­blicke erfüllt vom sin­gen­den Flug zweier
Höcker­schwäne. Das metal­li­sche Sau­sen, das ihre kraftvollen
Flü­gel­schläge ver­ur­sa­chen, wenn ihnen der Wind durch die Federn
streift, ist schon von Wei­tem zu hören. Ihre Schat­ten glei­ten übers
Was­ser. Ich lege den Kopf in den Nacken und folge ihrem Flug.
Schwäne sind impo­nie­rende Geschöpfe. Anmu­tig und wehr­haft zugleich.
Ein Schlag ihrer Flü­gel kann ern­ste Ver­let­zun­gen ver­ur­sa­chen. Ihr Name
geht auf das indo­ger­ma­ni­sche Wort suen zurück, das so viel wie
rau­schen oder tönen bedeu­tet. Das pfei­fende Lied ihrer Fluggeräusche
ent­fernt sich nun rasch und ver­klingt. Der Fluss fließt eilig dahin. Ich
errei­che viel zu schnell Bad Sal­zun­gen und erha­sche Blicke auf eine
ganz unbe­kannte Seite der eigent­lich ver­trau­ten Stadt. Wie oft habe ich
hier am Mor­gen an der Brücke ange­hal­ten und den Nebel über der
Werra im Licht der auf­ge­hen­den Sonne foto­gra­fiert, wie oft saß ich zum
Mit­tag auf jener Bank am Ufer – vom Was­ser aus betrach­tet sehen die
gewohn­ten Plätze anders aus.

Ich könnte ewig strom­ab­wärts trei­ben, allein mit dem Fluss und an nichts
außer den Fluss den­ken wol­lend. Ich fürchte, dass ich allzu bald in
Tie­fen­ort ankom­men könnte und meine herr­li­che Reise endet, aber der
Fluss hat ande­res mit mir vor. Hin­ter der Kreis­stadt lich­tet sich der
Gehölz­saum, und die Werra durch­fließt nun aus­ge­dehnte Auenwiesen.
Ihre Fließ­ge­schwin­dig­keit ver­rin­gert sich, und sie win­det sich träge in
unzäh­li­gen wei­ten Bögen durch das Land. Die ver­meint­lich kurze
Strecke nach Tie­fen­ort, die ich im Auto sit­zend in weni­gen Minuten
bewäl­tige, wird zu einer mehr­stün­di­gen Reise. Die Sonne steht
inzwi­schen schon tief über dem Hori­zont und taucht den Fluss in ein
gol­de­nes Licht. Wenn ich nicht im Dun­keln ankom­men will, muss ich jetzt
pad­deln. Ich pflüge durchs Was­ser und erwarte hin­ter jeder Biegung
sehn­süch­tig die ersten Häu­ser des Dorfes.

Meine nack­ten Füße wer­den kalt. Die Schuhe sind nass, weil ich am
Wehr vor Bad Sal­zun­gen ins Was­ser stei­gen musste, um das Boot über
Land zu tra­gen. Schließ­lich ver­schwin­det die Sonne hin­ter der
Ufer­bö­schung, und noch immer ist kein Haus zu sehen. Eine feuchte
Kühle legt sich über den Fluss. In der Däm­me­rung, wenn die Sonne
nicht län­ger auf dem Was­ser glit­zert, wird auch der Fluss dun­kel und
geheim­nis­voll. Sein Was­ser strömt schwarz und bedroh­lich. Eine
unge­zähmte Kraft, der ich mich plötz­lich aus­ge­lie­fert fühle, so allein in
mei­ner Nuss­schale. Mit erstaun­ten Blicken mustert mich ein einsamer
Ang­ler, als ich im Halb­dun­kel an ihm vor­bei­fahre. Ich bin erleich­tert, als
ich das Dorf errei­che. Über den Him­mel hat sich im Westen ein dunkles
Lachs­rosa gelegt. Kein Mensch ist mehr in den Gär­ten. Am Aus­stieg vor
dem wild schäu­men­den Wehr aber sitzt ein älte­rer Mann auf einer Bank
am Fluss­ufer, als hätte er auf mich gewar­tet und gewusst, dass ich seine
Hilfe brau­che, um mich und das Boot sicher an Land zu hieven.


aus: An der Bie­gung des Flus­ses – ein Buch über die Werra, Mit­tel­deut­scher Ver­lag Halle (Saale) 2022.
Alle Rechte lie­gen beim Ver­lag. Abdruck mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Ver­lags und der Autorin.

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