Diana Hellwig
I (großmütter)
meine erinnerungen gehen durch
armeleuteland, mägdezahlen, goldanleihen für den kaiser
das feine netz auf großmutters kalt gelegtem haar,
das sich unbenutzt in helles gespinst verwandelte,
zart und schwerelos zusammengekehrter staub
der am kamm hängenblieb auf der konsole über dem becken,
zentralheizung kam erst später,
die treppe nach oben, so einfach, sämtliche räume.
doch großmutter badete nicht, blieb in der ecke,
auf ihrer couch, bis sie starb;
das alte ding endlich wegkam mit großvaters priem
unterm kissen; keine ahnung,
ob er ihn mehrmals benutzte, wie ich später
west-kaugummi, das für einmal zu schade war
bunte kugeln, blasen, die auf dem gesicht klebten
wenn sie zerplatzten.
II (große brüder)
neben der räucherkammer die wurstkammer
neben der wurstkammer das alte schlafzimmer
in dem ich lag, als du bei der armee warst
nicht der krieg, nur der dienst
als großvater starb, du mit kindergesicht zurück
ein paar sachen, kram, einer clownsuhr mit ticktack-augen
die viel zu laut sich davonstahlen,
ich hatte keinen so festen schlaf.
in der nacht schwitzte die luft zwischen den scheiben
wenn draußen die fenster tauen, wieder frieren
für eine amerikanische zukunft, eine russische,
irgend eines herren zukunft.
am wochenende verpflegungsbeutel, sparkatiaden
buntmetall; zum werfen zu leicht, rohstoffe von morgen
wenn uns die welt gehört, machen wir kohle aus dreck -
und dreck haben wir genug.
III (mütter, väter)
und mutter hatte kleider aus weststoff,
gefärbte brauen, ein haarteil für ihren dutt
kein makel blieb ungeschoren beim impfsieg
über das alte jahrhundert; zum ersten mai
und blühte der mohn, blühte er der republik
plastikblumen mit sicherheitsnadeln,
die ich sammelte, die wunden, wurden vereist,
kniestrümpfe wieder hergestellt,
fahnenstangen hinter judomatten
bis zum nächsten kampftag oder thälmann-geburtstag
oder ehrenbegräbnis, fest junger pioniere –
jünger ging kaum, noch mehr zu groß als uniform
größer als träume zu spaniens himmeln
ging kaum, wenn wir an die ostsee fuhren
die übelkeit anhielt, verteilte mutter kölnisch wasser
auf vater, kissen und plüschtiere.
IV (kinder)
der schornstein der molkerei steht noch,
abgehalfterte fahnenmasten, heute verwachsen
fasst nicht mehr sichtbar, nur als protest einer anderen zeit
einzelne stücke im schrebergarten verpflanzt
plus schuppen mit wellasbest, das piratenhaft überdauert,
überdacht die häuser im spanischen stil
aufgemalte blumen, bougainvilleas, weil jetzt,
wo wir reisen dürfen, jetzt, wo wir gesehen haben,
jetzt – holen wir die ferne ein, umwickeln das segel,
fällt ein ziel nach dem anderen
die voodoo-puppe am rückspiegel des wartburgs;
war mal ´n großes ding, diese welt, und heute
so viele joghurtsorten, nazisymbole, das jährliche krippenspiel
eines neuen erlösers, gehe ich nirgendwo hin
nachts pfeifen und singen die masten, wenn der wind
in sie fährt, sich in die leere zurücksehnt
Alle Rechte bei der Autorin.
Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin.